Ich will nicht, dass noch jemand stirbt

Im Gespräch mit der Kupferblau berichtet Betül, eine Akademikerin aus der Türkei, von ihren politischen Erfahrungen. In Folge massiver Repressalien floh sie nach Deutschland. Auf dem Holzmarkt hält sie einmal die Woche eine Mahnwache. Sie will die Tübinger an die vielen inhaftierten Akademiker, Aktivisten und Journalisten erinnern, die in den türkischen Gefängnissen sitzen und keine Aussicht auf einen fairen Gerichtsprozess haben.

„Ich will nicht, dass Nuriye stirbt“. Betül blickt Erkan in die Augen, ihre Stimme wird lauter: „Ich will meine Freundin wohlauf sehen. Ich will nicht, dass noch jemand stirbt“. Erkan weicht ihrem Blick aus. Er scheint überfordert. Betül und Erkan sind Aktivisten, die sich gegen das „faschistoide System“ in der Türkei engagieren. Erkan ist in Deutschland geboren. Betül lebt erst seit einigen Monaten in Tübingen. Sie ist Mitglied der „Academics for Peace“, einer Initiative, die sich gegen staatliche Repressalien in der Türkei einsetzt.

„Engagiert euch. Politisiert euch.“

Auf dem Holzmarkt hält sie wöchentlich eine Mahnwache. Und vor der UniBib versucht sie regelmäßig Studierende auf die Probleme in der Türkei aufmerksam zu machen. Dabei mache sie die Erfahrung, dass die meisten Studierenden wenig Interesse hätten: „Sie wenden sich ab und laufen weiter“. Falls sie mit Studierenden in Kontakt kommt, seien dies meist entweder Politikwissenschaftler oder Juristen. Gerade mit jungen Studentinnen hat sie negative Erfahrungen gemacht. So wurde ihr von türkischstämmigen Studentinnen vorgeworfen eine Landesverräterin zu sein. „Gerade, dass solche Vorwürfe von jungen Frauen kommen, macht mich sehr traurig. Ich wurde bezichtigt eine Unruhestifterin zu sein“, so Betül. Anders sei es auf dem Holzmarkt, dort würden die meist älteren Bürger auf sie zukommen, fragen wie sie ihr helfen könnten. „Den Studierenden in Deutschland kann ich nur empfehlen jede Freiheit zu nutzen. Engagiert euch, politisiert euch. Lernen und Prüfungen zu bestehen ist nicht alles. Nicht weit von Europa herrscht das blanke Chaos.“

„Kampf gegen Faschismus“

„Man darf nicht Beobachter bleiben, der internationale Widerstand gegen den türkischen Faschismus muss erstarken“, betont Erkan. Was heute in fremden Ländern geschehe, könne bald auch im Herzen Europas stattfinden, so der junge Mann. Bei der Krisenlösung würden zu oft wirtschaftliche Interessen an erster Stelle stehen, dies sei, so Erkan, ein folgenreicher Fehler. Auch als Can Dündar vergangenen Monat in Tübingen zu Gast war, insistierte er auf „internationale Solidarität im Kampf gegen Faschismus“. Dündar sagte: „Faschismus ist nicht nur ein türkisches, sondern ein globales Problem“.

Im Gespräch mit den Passanten auf der Wilhelmstraße.

Selbstmord unter Lehrern

Früher einmal war Betül Wissenschaftlerin in der Türkei. Januar 2016 nahm sie an einer Petition teil, die sich gegen den im Südosten den Landes herrschenden Bürgerkrieg wandte. Die Unterzeichnenden plädierten für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts. Weil die 30-jährige an dieser Petition teilnahm, droht ihr in der Türkei das Gefängnis. Im Staatsdienst wird sie nie wieder tätig sein können. Unter anderem, weil die Regierung schwarze Listen führt. Das wurde per Notstandsdekret beschlossen. Wer in solch eine Liste aufgenommen wird, findet in der Türkei meist keinen Job mehr. Arbeitgeber wollen mit der Regierung keine Probleme haben, deshalb halten sie sich an die Vorgaben bestimmte Menschen nicht einzustellen. Der Existenzverlust würde viele Menschen in Verzweiflung treiben, sagt Erkan. Er berichtet von 27 ihm bekannten Fällen, in denen Lehrer, die ihren Beruf verloren Selbstmord begingen. Trotzdem sagt Betül: „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, wir sind im Recht und früher oder später wird sich die Gerechtigkeit durchsetzen. Wir müssen aber alle weitaus aktiver werden und sehr viel Mut zeigen“. Im Kampf gegen Unterdrückung sei das Internet ein wichtiges Medium. Übers Internet könnten die Menschen sich mittlerweile besser über die Lage der Türkei informieren als über die Zeitungen oder das Fernsehen. Auch Facebook und Twitter spielten dabei eine Rolle, so die junge Doktorandin.

120 Tage Hungerstreik

Nuriye, die Freundin, von der die Rede ist, ist in der Türkei geblieben. „Nuriye hat nie an Flucht gedacht“, sagt Betül. Nuriye war eine angehende Wissenschaftlerin, die sich gegen das System Erdogan auflehnte. Die ihren Job verlor, weil sie eine andere Meinung hatte. „Seit 128 Tagen befindet sich Nuriye im Hungerstreik, sie nimmt fast nichts zu sich. Nur Wasser, Salz, Zucker und Vitamin-B1-Präparate“, Betül beißt auf ihre Unterlippe, verschränkt die Arme, verflucht ihre Ohnmacht. Stille. Erkan rückt seine Brille zurecht, versucht etwas zu sagen, holt tief Luft: „Wir müssen weitermachen. Nuriye würde das wollen, Semih und all die anderen würden das wollen. Wir müssen weitermachen, Veranstaltungen organisieren, Bewegungen formieren. Es geht nicht anders“. Betül nimmt einen langen Zug aus ihrer Zigarette, blickt eine ganze Weile lang auf den Boden. Schließlich schaut sie Erkan an und sagt, dass sie all das nicht so kühl betrachten könne wie er: „O benim can arkadasim´dir“, sagt sie. „Can arkadasim“ ist der türkische Begriff für eine Freundin, die einem das Leben bedeutet. „Sie ist meine Herzensfreundin“, so könnte man den Satz übersetzen.

Jeder, der noch bestehende demokratische Bewegungen in der Türkei unterstützen will, kann am 25.Juli im Gemeindehaus Lamm am Marktplatz vorbeischauen. Dort trifft sich das Tübinger Bündnis für Solidarität in der Türkei. 

Weitere Informationen über die Berichte der Menschenrechtskommission: http://bit.ly/2vFkSAZ
Fotos: Alieren Renkliöz

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