Aids ist voll Neunziger, oder? Das im Programm der französischen Filmtage gezeigte Drama „120 BPM“ zeigt die medizinischen wie gesellschaftlichen Symptome der Krankheit zu einer Zeit, als Infizierte stigmatisiert und Aufklärung unterdrückt wurde. Und erinnert daran, dass wir das HI-Virus noch nicht los sind.
Es sind die frühen Neunziger. Das sieht man schon an den ausgewaschenen Jeans, den Bomberjacken, Millimeterschnitten und Goldohrringen. Alle sind ein bisschen so angezogen wie die Junkies in Trainspotting nur bunter. Und sie tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Act Up“. 1987 in New York gegründet, verfolgt die „AIDS Coalition to Unleash Power“ – ja, „Act Up“ ist nicht nur Aufforderung, sondern auch Abkürzung – das Ziel, den Kampf gegen Aids zu politisieren, zu popularisieren, kurz gesagt seine Power zu unleashen.
Nathan ist gerade „Act Up Paris“ beigetreten und weiß etwa so viel wie der latent informierte Zuschauer. Beiden wird erst einmal eingebläut, dass es hier nicht um Patientenhilfe, sondern um Aktivismus geht. Und der endet auch mal mit Blut. Theaterblut, das dem Repräsentanten einer Gesundheitsbehörde ins Gesicht geklatscht wird. An dieser Aktion zeigt sich die interne Zerrissenheit der Bewegung: während der gemäßigte Flügel um Sophie (Adèle Haenel) lieber diskutiert hätte, sieht Sean die Eskalation als Erfolg. Er steht für die radikalere Seite von „Act Up“, ist wie die meisten Mitglieder homosexuell, HIV-positiv und sich schmerzlich bewusst, dass seine Zeit abläuft. Zeit, die er nicht mit Reden verschwenden will.
Tempo: 120 BPM
Regisseur Robin Campillo war selbst Teil von „Act Up“, bewahrt aber trotzdem kritische Distanz. Die erste Hälfte des Films nutzt er, um in dokumentarischem Stil die widerstreitenden, teils widersprüchlichen Tendenzen der Gruppe abzubilden. Soll man sich mit Pharma-Konzernen, die Forschungsergebnisse aus Profitgier zurückhalten an einen Tisch setzen oder gegen sie protestieren? Sind Protest-Aktionen nicht bloß kostenlose Werbung für deren Medikamente? Solche Fragen werden in langen Debatten vor Hörsaalkulisse abgewogen, was schnell langweilig werden könnte. Glücklicherweise erkennt man schließlich, dass auch alles auf einmal geht. So kann der Regisseur dann fast in den namensgebenden 120 BPM das Leben seiner Protagonisten zusammenschneiden. Lobbyarbeit bei Politikern und Interessenverbänden, Kondome in Schulen verteilen (zum Verdruss des Direktors), Pharma-Labors mit Theaterblut vollkleistern, auf Gay-Pride-Demos tanzen, Party, Sex und alle vier Stunden Pillen, um die Krankheit in Schach zu halten. Als Nathan Sean fragt, was er eigentlich beruflich macht, antwortet der nur: „Ich bin HIV-positiv. Das ist alles.“
Politischer erster Kuss
Filmen mit politischem Thema wird gerne mal eine Liebesgeschichte draufgesetzt, um die Sache aufzulockern. Auch „120 BPM“ hat eine, die aber so gar nicht aufgesetzt wirkt. Wie zwei entgegengesetzte Pole nähern sich Nathan, HIV-negativ, ruhig besonnen bis naiv idealistisch und Sean, HIV-positiv, immer in Bewegung, wild und ungehemmt, langsam aneinander an. „Ich bin nicht schwul, ich bekomme euer Aids nicht!“, blafft eine Schülerin Nathan an, als er ihr ein Kondom geben will. Sean küsst ihn darauf ostentativ auf den Mund. Es ist ihr erster Kuss und Protestaktion zugleich. Campillo wählt nach dem anfänglichen Tempo zunehmend längere Einstellungen, um sich der Beziehung der beiden zu widmen, die immer mit dem Aktivismus verwoben bleibt. Im Schlafzimmerhalbdunkel fährt die Kamera in einer Szene über nackte Körper ohne erkennbaren Schnitt vom Blowjob in der Gegenwart einige Jahre zurück zum Analsex mit dem Mathelehrer, der Sean infiziert hat. Nicht nur das Tempo, auch Seans Gesundheit schwindet langsam und so verschiebt sich der Fokus vom Polit- zum persönlichen Drama.
Was bleibt?
Die Behandlung von Aids hat sich in den letzten 25 Jahren erheblich gewandelt, Infizierte können dank verbesserter Medikamente sehr lange mit der Krankheit leben. Auch wenn in deutschen Innenstädten regelmäßig kondomüberzogenes Gemüse auf Werbeplakaten zur Vorsicht mahnt, scheint Aids gerade wegen medizinischer Fortschritte oft eher eine abstrakte Bedrohung zu sein. „120 BPM“ führt vor Augen, dass das nicht immer so war und konfrontiert mit dem tödlichen Potential des HI-Virus.
„120 BPM“ läuft in Tübingen noch einmal am 08.11.17 um 22 Uhr im Kino Museum und kommt voraussichtlich ab 30.11. deutschlandweit in die Kinos.
Fotos: Pressestelle Französische Filmtage