Zum zweiten Mal feierten die lyrik- und unterhaltungshungrigen Tübinger den monatlichen Poetry Slam im Landestheater Tübingen. Trotz der nationalen Lethargie, ausgelöst durch die Niederlage der deutschen Nationalmannschaft am späten Nachmittag, durften sich die sechs hochambitionierten Wortjongleure an einem fast ausverkauften Saal erfreuen.
Authentizität in Person
Die Slamer des Abends überzeugten vor allem mit authentischen Erzählungen aus dem Alltag, deren ungeschönte Wahrheit eine emotionale Nähe zum Zuschauer schaffte. So beschreibt der älteste Slamer der Runde das Alltagsproblem der mächtigen Stimme im Kopf, die zur abendlichen Nachtruhe wiederkehrt und an die Einkaufsliste von morgen, den blöden Kollegen von gestern oder die gegenwärtig volle Blase (als Folge hohen Bierkonsums) erinnert.
Auch bei Mbayo Bonas unterhaltsamer Inszenierung einer Alltagsszene an einer Straßenampel ist der Zuschauer sofort gedanklich involviert. Ein bedeutungslos scheinendes Straßenverkehrselement bringt Menschen mit verschieden Zielen zusammen. Das gemeinsame Warten zwingt die Reisenden miteinander ihre Belange zu teilen. Der Student, der Bänker, das Kindergartenkind – alle befinden sich auf einem anderen Weg mit verschieden Sorgen. Was sie verbindet, ist die morgentliche Hektik und plagende Gedanken über alltägliche Pflichten. Das lyrische Schauspiel hinterlässt die skeptische Frage, weshalb eine Ampel nötig ist, um Menschen innhalten zu lassen und sich auf menschliche Interaktion einzulassen.
ONS – „Ohne Nähe sicher“?
Gewinner Philipp Strohm brachte mit sehr viel Witz und Ironie menschliche Unzulänglichkeiten zur Sprache, wenn es um das Thema Gefühle geht. Er inszenierte die heutige Mentalität der Speed-Dating-Kultur, die durch Tinder, Parship und Co. verkörpert wird. Mit einer ordentlichen Portion zynischer Ironie verpackte er dieses Thema in ein Schauspiel, das er durch gekonnten Stimmenwechsel in Szene setzt.
In der Finalrunde sorgte Philipp für verschämte Gesichter und gleichzeitig tosendes Gelächter, als er eine detailreiche One-Night-Stand Story performt. Hierbei führte er den Zuhörern die „Ohne Nähe sicher“ Einstellung vor Augen – die weitverbreitete Angst Körperlichkeit mit Gefühlen zu kombinieren. Bedingt durch die sinnlose Panik vor Freiheitsverlust durch zwischenmenschliche Nähe.
Von Weltverbesserern und Glücksfanatikern
Zweitplatzierter Richard König glänzte an diesem Abend mit sehr ehrlichen Wortspielen, die er gekonnt mit lyrischem Werkzeug kunstvoll unterstrich. Er teilte mit seinen gebannten Zuhörern das Dilemma der Weltverbesserer: Wie schafft man es bewusst auf globale Missstände hinzuweisen, ohne direkt als nerviger Klugscheißer abgestempelt zu werden?
Neben globalem Streben nach Glück, versuchte eine weitere Poetin dem Glück eine greifbare Form zu geben. Die Definitionsproblematik wurde hierbei schnell klar, da jeder Mensch auf verschiedene Weise Glück empfindet; der eine bei einer heißen Tasse Kaffee auf dem Sofa, der andere beim Zuhören eines Poetry Slams. Auch Slamerin Helena kreierte eine sehr emotionale Darbietung, die vom Liebesglück ihrer Eltern erzählt.
Die absolute Begeisterung der Zuschauer spiegelte sich in der Siegerehrung wieder. Statt zwei Finalisten jubelten die Gäste gleich vier Slamer ins Finale. Nach einer ungewöhnlich langen Jam-Session hatte jedoch Offenburger Philipp Strohm applaustechnisch die Nase etwas weiter vorne als sein Mitstreiter – oder bessergesagt seinen Slam-Genossen.
Der letzte Poetry Slam vor der Sommerpause findet am 18. Juli im LTT statt.
Fotos: Gizem Gueler