Vom 21. – 28.11.2018 fand das Frauen Filmfest von TERRES DES FEMMES in Tübingen statt. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich gegen Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen überall auf der Welt ein und thematisiert auch Frauenrechte in verschiedenen Kulturen. Mit dem Film „The Tale“ wurde am 25.11 im Kino Museum Sexualisierte Gewalt und Kindesmissbrauch angesprochen.
Heute, in Zeiten von #MeToo stellt sich die Frage, welchen Stellenwert Themen wie sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kindesmissbrauch in einer öffentlichen Debatte haben. Dies verdeutlichte der Film „The Tale“. Jennifer Fox arbeitet autobiographisch ihre Kindheitserlebnisse auf, denn mit 13 Jahren wurde sie von ihrem Lauftrainer mehrfach missbraucht. Sie wollte die Gesellschaft bezüglich des Themas ‚Kindesmissbrauch‘ sensibilisieren, Erwachsene sollten über manipulative Tricks der Täter aufklärt werden, die Kinder willfährig machen. Im Anschluss an den Film gab es eine Diskussion mit einer Sozialpädagogin von „AGIT – Anlaufstelle Sexualisierte Gewalt Tübingen“.
The Tale: Eine vermeintliche Liebesgeschichte offenbart den Missbrauch
„The Tale“ zeigt Jennifer als eine glückliche und erfolgreiche Dokumentarfilmerin, die an der Universität in New York lehrt und einen Verlobten hat. Die damals 13-jährige Jenny lernte den Lauftrainer Bill und die Reitlehrerin Mrs. G. in einem Sommercamp kennen, hatte ihre Periode noch nicht bekommen und ebenfalls eine flache Brust. Als Erwachsene denkt sie, dass der sexuelle Missbrauch damals eine „wunderschöne“ erste Liebesbeziehung war, als ihre Mutter 35 Jahre später in einer Kiste eine Geschichte findet, die Jenny als Kind über die vermeintliche Liebesbeziehung geschrieben hat. Während ihr Verlobter oder ihre Mutter Jenny klar sagen, dass es sexueller Missbrauch war, muss sie sich erstmal selbst ihrer Vergangenheit stellen und in einem Prozess das Geschehene aufarbeiten und akzeptieren. Es kommt bei ihrer Reise der Verdacht auf, dass der Trainer in seiner erfolgreichen Laufbahn höchstwahrscheinlich noch viele andere Mädchen missbraucht hat.
Manipulative Machenschaften, um ein Kind willfährig zu machen
Mrs. G und Bill manipulieren Jenny gemeinsam so, dass letztendlich eine sexuelle Beziehung zwischen ihr und Bill entsteht – es kommt zu regelmäßigem sexuellem Missbrauch, das Mädchen übernachtet bei dem älteren Mann ohne Wissen ihrer Eltern. Bewusst werden im Film gerade auch die physischen Missbrauchsszenen gezeigt, die in anderen Filmen oft weggelassen werden. Dies geschieht mit einem Körperdouble, bei dem nachträglich das Gesicht der 11-jährigen Schauspielerin reingeschnitten wurde: Jennifer Fox möchte, dass der Zuschauer bei diesem ungemütlichen Tabuthema nicht wegschauen kann. Jenny duldet den Missbrauch zunächst, da sie glaubt Bill tut das, weil er sie liebt und er ihr einredet, sie seien Seelenverwandte. Jenny genießt die Aufmerksamkeit, die sie von ihren Eltern nicht zu bekommen glaubt. Nach und nach merkt das Kind, dass etwas geschieht, dass sie nicht will: Sie wehrt sich gegen den Missbrauch und bricht den Kontakt zu beiden ab.
Soziales Umfeld und Täter schreiben oft den Missbrauchsopfern die Schuld zu
Im Anschluss an den Film war die Expertin Micha Schöller zu einer Diskussion von Terres des Femmes eingeladen worden. Micha Schöller ist eine Sozialpädagogin und arbeitet bei „AGIT“, einer Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt für Männer und Frauen in Tübingen. Sie sprach konkret über ihre Arbeit mit Frauen in Tübingen und verschiedene Aspekte aus dem Film, die auch in ihrer Arbeit relevant sind, wie zum Beispiel die Täterkonfrontation, traumatisches Erleben aufarbeiten und die so oft gestellte Schuldfrage.
Micha Schöller betont sehr stark, dass man die Manipulationen der Täter nicht unterschätzen darf: Dass das Kind den Missbrauch über lange Zeit duldete bedeute keinesfalls, dass auch es eine Mitschuld trage, was häufig leider unterstellt wird. Nicht nur die Täter reagieren in einer Täterkonfrontation meist so, dass sie die Verantwortung dem Kind zuschreiben, auch soziales Umfeld und Familie können so reagieren:
„Warum erzählt du das jetzt erst? Wenn du früher was gesagt hättest, hätte man dir helfen können.“
Von einer Täterkonfrontation sei zudem in den meisten Fällen abzuraten, weil zentrale Fragen der Betroffenen unbeantwortet bleiben müssen. Es gäbe keine persönlichen Gründe, warum ausgerechnet eine Person vom Täter ausgesucht wurde und auch keine Antwort darauf, warum Täter so etwas überhaupt gemacht haben.
Betroffene Frauen leiden oft unter quälenden Schuldgefühlen, selbst für den Missbrauch verantwortlich gewesen zu sein und suchen sich oftmals auch aus diesem Grund keine Hilfe. In Jennys Fall ist es genauso: Sie erzählt es niemandem, versucht aber als 13-jährige durch das Vorlesen dieser Geschichte in der Schule einen versteckten Hilferuf auszusenden. Doch die Lehrerin glaubt, es sei eine erfundene Geschichte, das könne ja nicht die Realität sein. Auch Jennifers Mutter kann die vorhandenen Anzeichen des Missbrauchs nicht erkennen.
#MeeToo und die Enttabuisierung eines schwierigen Themas
Durch #MeToo im letzten Jahr erfuhr das gesellschaftlich tabuisierte Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen eine breite öffentliche Wirksamkeit, indem sich die Opfer öffentlich meldeten und Verantwortliche benannten. Micha Schöller berichtet von der immer noch aktuellen Brisanz des Themas und wie es ein Problem sein kann, mit jemandem darüber zu reden: Sie erzählt von Frauen, die die Erfahrung gemacht haben bei einer Therapie nicht darüber sprechen zu können. Als sie endlich bereit gewesen wären über das traumatische Erleben zu sprechen, hätten Therapeuten abgeblockt und gesagt, dass sie nicht darüber sprechen können. Das Gute der #MeToo Debatte zeigt sich darin, dass nun vermehrt öffentlich über ein tabuisiertes Thema gesprochen werden kann. Es ist klar:
Dieses Thema darf nicht totgeschwiegen werden!
Denn es findet alle drei Minuten eine Vergewaltigung in Deutschland statt und es werden weniger als 1% der Täter verurteilt. Die Dunkelziffern der nicht gemeldeten Fälle sind hoch und durch die aktuellen Debatten besteht die Hoffnung, dass in Zukunft mehr Fälle aufgedeckt werden können, bevor sie verjährt sind.
Beratung und Hilfe bei AGIT
Am Ende der Diskussion rief Micha Schöller dazu auf, das Angebot der Beratungsstelle zu nutzen. Man kann dort z.B. nach einer Vergewaltigung ohne die Polizei eine Spurensicherung durchführen. Das kann wichtige Beweise sichern, falls man sich später noch für eine Anzeige entscheidet. Die Anspruchnahme auf professionelle Hilfe bleibt aber, wie Micha Schöller ausdrückt, nur bei den Betroffenen. Angehörige können auf das Angebot aufmerksam machen, doch den Schritt muss jeder für sich selbst gehen. Um mit seinem Trauma umzugehen und die Erinnerungen aufzuarbeiten, hat jeder seinen eigenen Weg; wie Jennifer Fox, die keine Therapie brauchte, sondern einen Film drehte, der auch präventiv an Millionen anderer Frauen gerichtet ist und die Folgen des Missbrauchs deutlich macht.
Fotos: Filmfest Frauenwelten und Christine Scharf.