Wer ist in Tschetschenien ein Held? In der zu Russland gehörenden Republik war das lange Zeit ein Kämpfer. Zehn Jahre nach den beiden Kriegen gegen Russland fehlen nun aber Lehrer, Wissenschaftler und Sozialarbeiter. Das möchten Karo vom studentischen Verein Studieren Ohne Grenzen (SOG) und der tschetschenische SOG-Stipendiat Ibrahim ändern. Wir haben mit Karo und Ibrahim über soziale Projektideen, erfolgreiche internationale Zusammenarbeit und die Studienbedingungen in Tschetschenien gesprochen.
Ich treffe Karo und Ibrahim im Café Rosa, im Institut für Erziehungswissenschaft, wo Ibrahim seit einem Jahr studiert. Wir bestellen unseren „Kaffee für den täglichen Aufstand“, wie auf einem Plakat an der Wand zu lesen ist. Den scheinen Ibrahim und Karo aber gar nicht nötig zu haben: Ibrahim ist gelernter Sozialarbeiter, der mit Projekten wie Schulen für behinderte Kinder schon lange gegen die Unterdrückung von Minderheiten kämpft. Sein Tübinger Studium der Erziehungswissenschaft hat ihm unter anderem Karo ermöglicht, zweite Vorsitzende des Vereins Studieren Ohne Grenzen in Deutschland (SOG). Die deutsche Sektion der ursprünglich französischen Gruppe „Études sans frontières“ wurde 2006 in Tübingen und Konstanz gegründet und vergibt Stipendien an Studierende aus Tschetschenien, dem Kongo, Afghanistan, Burundi, Sri Lanka und Guatemala. Aktuell ist Ibrahim der einzige tschetschenische Stipendiat in Tübingen, ihm gingen jedoch sieben weitere voraus. Die Unterstützung soll es den StipendiatInnen ermöglichen, ihre Projektideen in den jeweiligen Herkunftsländern selbst umzusetzen. Welche Projekte sie in Tschetschenien realisieren möchten und nach welchem Konzept dies bei Studieren Ohne Grenzen funktioniert, erläutern Ibrahim und Karo im Interview.
„Und am Ende braucht kein Mensch einen Brunnen.“
Karo, was ist deine Hauptmotivation, bei Studieren ohne Grenzen mitzumachen?
Karo: Zu SOG gekommen bin ich vor fast vier Jahren. Damals war ich im Rahmen der Week of Links bei einem SOG-Workshop, bei dem es um postkoloniale Perspektiven und um internationale Zusammenarbeit ging. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich schon mit globalen Zusammenhängen beschäftigt und wusste, dass ich mich gerne neben dem Studium engagieren wollte, aber ich wusste noch nicht, wo. Mich hat es genervt, dass es in der internationalen Zusammenarbeit so viele Projekte gibt, bei denen irgendjemand aus Europa irgendjemandem in einem anderen Land sagt „Wir bauen jetzt hier einen Brunnen, das ist, was ihr braucht“ – und am Ende braucht kein Mensch einen Brunnen. Ich war begeistert von dem Konzept, dass Leute gefördert werden, die selber Ideen haben. Außerdem finde ich es sehr wichtig, dass wir bei SOG unsere Arbeit aus einer machtkritischen Perspektive reflektieren.
Du favorisierst also Konzepte, bei denen die Perspektive der Geförderten stärker einbezogen wird. Was gehört für dich noch zu erfolgreicher internationaler Zusammenarbeit dazu?
Karo: Ich finde es wirklich total wichtig, dass man Leuten zuhört. Dass man sich bewusst wird, dass es eine globale Ungerechtigkeit gibt und dass wir aus der privilegierten Position heraus eine Verantwortung haben, an der Verbesserung der Situation mitzuwirken. Aber uns muss klar sein, dass wir es nicht besser wissen. Wir dürfen nichts vorschreiben.
Wie würdet ihr SOG in drei Worten beschreiben?
Karo: Austausch, Sinn und Spaß.
Ibrahim: Möglichkeit, Selbstständigkeit und Wissen.
Ibrahim, wie hast du von Studieren Ohne Grenzen erfahren? Was hat dich motiviert, in Deutschland zu studieren?
Ibrahim: In Tschetschenien habe ich schon Ingenieurswissenschaften studiert und gleichzeitig eine dreimonatige Ausbildung als Sozialarbeiter gemacht. Die Umsetzung eigener sozialer Projekte ist bei uns bürokratisch schwierig, aber ich habe mit zwei Freunden eine Kunstschule gegründet. Also eigentlich war es ein Raum mit 20 Schülern, die meisten davon mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Dann bin ich zufällig auf Instagram auf einen Link eines ehemaligen Stipendiaten von Studieren Ohne Grenzen gestoßen. Ich habe den Beitrag mit Mühe und Not übersetzt und verstanden, dass die Menschen fördern, die in ihren Heimatländern soziale Projekte in die Tat umsetzen. Ich wollte weitere eigene Projekte realisieren, und so habe ich mich beworben. Und ich wollte unbedingt wissen, wie es in einem demokratischen Land wie Deutschland aussieht. In Tschetschenien wird die Demokratie ambivalent dargestellt, vor allem in den russischen Massenmedien. Aber ich kannte Menschen, die in Europa leben, und was die erzählten, passte gar nicht zum Bild in den Medien.
Hast du zu der Zeit schon Deutsch gelernt?
Ibrahim: Wirklich Deutsch gelernt, so fünf Stunden am Tag, habe ich erst hier. Im April 2018 bin ich nach Deutschland gekommen, dann habe ich erstmal ganz viele Bücher von SOG bekommen. Ich habe auch gute Freunde, die mir geholfen haben, ich habe alle immer mit Fragen bombardiert. Wie sagt man? Mit den richtigen Menschen kann man alles erreichen (lacht).
Karo: Das war wirklich beeindruckend, Ibrahim hat super schnell gelernt. Wir hatten am Anfang noch einen Übersetzer ins Russische, aber nach einem Monat ging es im Prinzip besser ohne.
„Ich kam auf die Idee der Ökotherapie.“
Karo, wie wählt ihr Stipendiaten wie Ibrahim aus?
Karo: Wir haben insgesamt acht Stipendienprogramme. Bei allen sind die zwei Hauptkriterien eine eigene Projektidee, mit der sich die StipendiatInnen bewerben, und Bedürftigkeit. Die eingehenden Bewerbungen werden in den meisten Fällen nach einem vorgegebenen Schema von mehreren JurorInnen bewertet, mit den besten BewerberInnen wird nochmals persönlich gesprochen, die finale Entscheidung wird anschließend meistens von der Projektgruppe in Deutschland getroffen. Bei den anderen Stipendienprogrammen werden die Studierenden vor Ort gefördert, nur im Tschetschenienprojekt wird jemand für eine bestimmte Zeit nach Deutschland geschickt. In den anderen Projekten sprechen daher oft Kontaktpersonen vor Ort mit den BewerberInnen, oder wir führen Auswahlgespräche über Skype. Die Auswahlkriterien sind die Motivation, die Projektidee und deren Umsetzbarkeit. Die Idee sollte eine Multiplikatoreffekt in sich tragen, sodass auch andere Leute im Heimatland von der Förderung profitieren können.
Du hast ja schon von der Kunstschule gesprochen, Ibrahim, hast du Pläne, diese weiterzuführen? Oder was sind deine Projektideen?
Ibrahim: Die Kunstschule war für uns als Amateure ein erfolgreiches Projekt. Jetzt wollen wir etwas in der Natur machen, ich kam auf die Idee der „Ökotherapie“. Ich habe es sozusagen für Tschetschenien selber erfunden, aber ich habe erfahren, dass es das in Deutschland schon gibt. Ein großes Problem ist bei uns, dass die meisten Menschen nur zuhause sitzen. Vor allem Menschen mit Behinderung, mit denen ich arbeiten möchte, sind wenig mobil, können nicht einfach in den Urlaub fahren oder sogar nicht alleine einkaufen gehen. Deshalb will ich mit den Menschen in die Natur gehen und verschiedene Übungen in der Natur machen. Das soll eine Alternative dazu sein, den Leuten einfach ganz viele Medikamente zu verschreiben.
Karo: ‚Ökotherapie‘, das ist sowas wie Erlebnispädagogik, oder?
Ibrahim: Ja, genau. Außerdem habe ich mit Freunden geplant, eine neue Schule zu gründen, in der Kinder mit Behinderungen Sprachen lernen können. Wir wollen Englisch, Deutsch und Arabisch unterrichten.
Abgesehen von den Projekten, was sind deine weiteren Studienpläne, nachdem dein Stipendium ausläuft?
Ibrahim: Wir in Tschetschenien brauchen Lehrer und Lehrerinnen. Die meisten Tschetschenen, die im Ausland studieren, studieren Medizin oder Ingenieurswissenschaften, im Bereich soziale Arbeit fehlen Menschen. Ich würde daher gerne hier in Deutschland mit Erziehungswissenschaft oder Pädagogik weitermachen, in Erlangen oder Halle. Für das weitere Studium bewerbe ich mich bei Stiftungen für andere Stipendien.
Du hast in Tschetschenien zunächst auch Ingenieurswissenschaften studiert. Hast du dich nebenher immer für soziale Arbeit interessiert?
Ibrahim: Eigentlich wollte ich nie Ingenieurswissenschaften studieren, ich wollte gleich entweder mit Politikwissenschaft oder sozialer Arbeit anfangen. Aber leider habe ich in den gewünschten Studiengängen keinen Studienplatz bekommen.
„Über Tschetschenien werden auch andere Geschichten erzählt, wie die Geschichte von Ibrahim.“
Was war denn dein Berufswunsch als Kind?
Ibrahim: Als Kind wollte ich Kämpfer sein – sehr komisch (lacht). Tschetschenien hat zwei Kriege gegen Russland geführt, wir haben für Freiheit gekämpft. Daher war in meiner Kindheit das typische Spielzeug eine Pistole – um mich herum waren überall Ruinen. Dann kam der Wiederaufbau, aber in Tschetschenien gibt es viele Minderheiten, die noch heute unterdrückt sind. Daran kann die soziale Arbeit etwas ändern.
Was gefällt dir an Deutschland und an Tübingen?
Ibrahim: Tübingen ist mit seiner Altstadt sehr schön, und ich habe hier viele Menschen kennengelernt, die mich gut beeinflussen. Was mir in Deutschland wirklich gefällt, ist, dass man einfach demonstrieren darf. Ich bin ab und zu auf Demos gegangen und dachte mir: Hier kann man seine Meinung äußern! Das fehlt uns sehr.
Karo: Ich habe auf jeden Fall gemerkt, wie glücklich wir uns in manchen Punkten schätzen können. Ich habe ja gar kein Verständnis dafür, was das Recht auf freie Meinungsäußerung und Demonstration für ein hohes Gut ist. Über Tschetschenien wird aber sehr einseitig berichtet – über Geflüchtete, Clans, Homosexuellenverfolgung…
Es ist uns wichtig, zu zeigen, dass es immer verschiedene Geschichten über ein Land zu erzählen gibt. Und zu Tschetschenien gehören eben nicht nur Geschichten über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, sondern auch Geschichten wie die von Ibrahim.
„Alle Helden sind Kämpfer. Keiner will studieren.“
Was kann eurer Meinung nach der Einzelne tun, um Bildung weltweit zu fördern?
Karo: Kurzer Einschub: Studieren Ohne Grenzen existiert nicht, um Bildung zu fördern. Sondern, um Menschen mit Ideen zu fördern. Bildung ist eher das Mittel dorthin, nicht der Selbstzweck. Noch wichtiger ist für uns gegenseitiger Austausch.
Ibrahim: Austausch ist wirklich wichtig. Deutschland war für mich eine parallele Welt. Ich habe gesehen: Wir können auch ohne Korruption leben. Gute Ideen aus einem Land sind übertragbar.
Karo: Willst du zu Bildung noch dein Lieblingszitat anbringen?
Ibrahim: Na gut. Ich benutze es nur, wenn ich wirklich etwas Neues entdecke. Jedes Land hat Helden, an denen man sich orientiert. Unsere Helden waren immer Kämpfer, was auf Kriege im Kaukasus zurückgeht. Keiner will studieren. Kämpfer sind auch cool (lacht). Aber ich finde, das ist gerade nicht sinnvoll. Wir brauchen andere Vorbilder: Ingenieure, Wissenschaftler…Und wir brauchen Bildung. Dazu habe ich von Nelson Mandela gelesen: „Bildung ist die mächtigste Waffe, um die Welt zu verändern.“ Das ist die Devise, nach der ich lebe.
Vielen Dank an Karo und Ibrahim für das Interview!
Fotos: Alexa Bornfleth