Die Tübinger Poetik-Dozentur findet in diesem Jahr zum 33. Mal statt. Sie bietet Autor*innen ein Forum, um über ihr Schreiben und den Prozess dahinter zu sprechen. Auch dieses Jahr sind wieder zwei spannende Schriftsteller*innen in Tübingen zu Gast. Kupferblau hat mit Prof. Dr. Dorothee Kimmich gesprochen. Sie richtet die Poetik-Dozentur aus und weiß, was hinter den Kulissen passiert.
Kupferblau: Was ist die Idee hinter der Poetik-Dozentur?
Kimmich: Grundsätzlich ist die Poetik-Dozentur ein Format, das die Universität mit einer breiteren Öffentlichkeit vernetzen soll. Auf der einen Seite mit der literarischen Öffentlichkeit, also mit den Autorinnen und Autoren, und auf der anderen Seite mit der außeruniversitären Öffentlichkeit. Es geht darum, dass Autor*innen über das eigene Schreiben nachdenken und berichten, und dabei sowohl zukünftige Projekte als auch vergangene Erfahrungen mit einbeziehen. So können wir gewissermaßen lebendige Literaturgeschichte erleben.
Kupferblau: Gab es in den letzten Jahren eine Poetik-Dozentur, die Sie besonders beeindruckt hat?
Kimmich: Besonders schön und interessant war die Poetik-Dozentur mit Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu. Feridun hat damals den großen Hörsaal mit 600 Leuten zu stehenden Ovationen gebracht. Siri Hustvedt war auch ziemlich aufregend, weil kurz vorher Donald Trump zum Präsidenten gewählt worden war und damit auch die Vorlesungen einen politischen Rahmen bekamen. Es gab aber viele andere sehr beeindruckende Begegnungen, jedes Mal ist es wieder neu und anders.
Kupferblau: Nach welchen Kriterien werden die Autor*innen ausgewählt?
Kimmich: Wir möchten einen nicht nur repräsentativen, sondern auch interessanten Ausschnitt von dem bekommen, was literarisch gerade passiert. Am besten ist eine Mischung aus denen, die überall eingeladen sind und denen, die noch nicht überall eingeladen sind. Die Person muss sich natürlich auch auf die Universität einlassen und überhaupt gerne über ihr eigenes Schreiben sprechen. Das ist eine schwierige Art des Sprechens, weil es ein literarisches Sprechen über die eigene Literatur ist. Das liegt nicht jedem und nicht jeder. Es gilt also, Leute zu finden, die das gerne machen, die das gut machen und die auch die Präsenz für einen Hörsaal mit 400 Leuten haben.
Für die Poetik-Dozentur kamen schon Autoren wie Jonathan Franzen, Juli Zeh und Feridun Zaimoglu nach Tübingen.
Kupferblau: Wen würden Sie gern einladen, wenn Sie frei wählen könnten?
Kimmich: Ich hätte Philip Roth gerne in Tübingen gehabt, aber er ist leider verstorben. Und er war jemand, der nicht viel gereist und aufgetreten ist. Auch bei Chimamanda Ngozi Adichie können Sie mir die Daumen drücken, dass sie vielleicht irgendwann noch kommt.
Kupferblau: Warum wurden in diesem Jahr Karl Ove Knausgård und Judith Schalansky ausgewählt?
Kimmich: Als Knausgård vor mehreren Jahren sein großes Autobiografie-Projekt begonnen hat, habe ich eine Einladung an seine Agentur geschickt. Ich habe jedoch keine Antwort bekommen. Dieses Jahr ist Norwegen das Gastland der Frankfurter Buchmesse – da ist Deutschland offensichtlich in den Fokus von Knausgård und seiner Agentur gerückt. Sie haben dann bei uns angefragt, ob er kommen kann. Dass man so eine Anfrage kriegt, war so unglaublich, dass wir zugesagt haben. Parallel dazu hatte auch Frau Schalansky zugesagt. Das ist eine etwas brisante Mischung, muss man sagen.
„Das ist genial – wenn man gute Bücher schreibt, die auch noch schön sind!“
Kupferblau: Was zeichnet die beiden Autor*innen Ihrer Meinung nach besonders aus?
Kimmich: Ich finde, dass das Schreibprojekt von Knausgård in seiner radikalen autobiografischen Form ein unglaublich interessantes Experiment ist. Er liefert eine fotografische Detailtreue und eine Art von grausamer, kalter Psychologie. Schalansky ist eine ganz besondere Figur: Sie rückt das Buch als Gegenstand wieder in den Fokus. Das ist genial – wenn man gute Bücher schreibt, die auch noch schön sind! Was beide vereinigt, so unterschiedlich sie es machen, ist ein unglaubliches Interesse an der literarischen Beschreibung von Realität. Beide haben eine irre Begabung und Präzision dabei, Gegenstände, Gerüche oder Geräusche sprachlich umzusetzen. Das ist unglaublich wichtig in einer Zeit, in der wir über die Bildmedien so viel Realität bekommen.
Kupferblau: Haben Sie denn ganz bestimmte Lektüretipps von den beiden Autoren?
Kimmich: Von Knausgård würde ich als erstes „Sterben“ lesen. Darin erzählt er die Geschichte seiner Jugend in einer Konstellation zwischen Mutter, Vater, seinem Bruder und ihm. Das ist ein sehr schönes Buch, in dem auch eine Art von Naturerlebnis, wie es nur Jugendliche haben können, sehr eindrucksvoll erzählt wird. Bei Schalansky würde ich empfehlen, mit dem „Hals der Giraffe“ anzufangen und sich dann vielleicht das „Inselbuch“ anzuschauen.
Seit 1996 wird die Poetik-Dozentur vom Deutschen Seminar der Universität Tübingen ausgerichtet. Im Jahr 2016 waren Siri Hustvedt und Vittorio Gallese zu Gast.
„Je mehr Studierende da sind, desto besser ist die Atmosphäre“
Kupferblau: Welche Programmpunkte gibt es während der diesjährigen Poetik-Dozentur?
Kimmich: Die Dozentur beginnt immer mit der Lesung in Schwäbisch Hall, in einem Museums-Saal unseres Sponsors. Gesponsert werden wir von der Würth GmbH in Künzelsau. Dann gibt es zwei Vorlesungen von Knausgård und zwei Vorlesungen von Schalansky, zudem gibt Frau Schalansky noch einen zweitägigen Schreibworkshop. Darin geht es um Beschreibungstechniken, um Wörter, um Textstrukturen, anmelden kann man sich am Deutschen Seminar bei Sara Bangert.
Kupferblau: Möchten Sie sonst noch etwas zur Poetik-Dozentur loswerden?
Kimmich: Eine wichtige Info: Die Poetik-Dozentur kostet nichts! Ich freue mich auf viele Zuhörerinnen und Zuhörer und hoffe, dass es noch ein bisschen so weitergeht. Und je mehr Studierende da sind, desto besser ist die Atmosphäre. Nichts gegen Leute aus der Stadt, die sehr kulturinteressiert und sehr gebildet sind – aber lebendig und interessant wird es eigentlich erst, wenn die Universität mit dem Besten aufwartet, was sie hat: nämlich ihren Studierenden.
Die Termine der Poetik-Dozentur in Tübingen im Überblick:
- Montag, 2. Dezember, 20 Uhr / Dienstag, 3. Dezember, 18 Uhr: Karl Ove Knausgård im Audimax
- Mittwoch und Donnerstag, 4./5. Dezember, 20 Uhr: Judith Schalansky in der Alten Aula
- Donnerstag und Freitag, 5./6. Dezember: Schreibworkshop mit Judith Schalansky
Interview: Friederike Streib und Alexa Bornfleth
Fotos: Friederike Streib und Felix Müller