Wofür würdest du auf die Straße gehen? 68er in Tübingen – Teil 4/4

Auf die 68er-Generation wird oft nostalgisch zurückgeblickt: „Damals waren Studierende noch politisch, da konnte man noch was bewegen!“ Heutzutage sieht das Weltbild und das Selbstverständnis an der Uni deutlich anders aus. Wir sehen uns nicht als Revolutionäre und das höchste der Gefühle ist ein entrüsteter Facebookpost über das Mensaessen. Geht da noch was? Wir haben nachgefragt.

Die Uni war schon immer ein Ort für große Ideen und utopische Lebensvorstellungen. Hier wurde heiß diskutiert und wild protestiert – das erzählen uns zumindest unsere Eltern und Großeltern. Wir dagegen sind Generation Y und Z, wir leben unter der Doktrin des absoluten Individualismus („Wenn du dich nur anstrengst, kannst du alles erreichen!) und des totalen Vergleichs dank digitaler Netzwerke („… denn xy hat es ja auch geschafft! #workworkworkworklifebalance). Aber haben wir neben all den unbezahlten Praktika und den Selbstfindungs-Weltreisen noch Zeit, zu protestieren und uns für die Dinge einzusetzen, die uns wichtig sind?

Kritisch sein und und in die Zukunft blicken

„Man muss kritisch sein. Wählen gehen reicht nicht“, findet Miriam, 26. Die Lehramtsstudentin in Geschichte, Latein und Politikwissenschaften war schon auf mehreren Demos, zum Beispiel gegen Stuttgart 21 und für Europa beim „Pulse of Europe“. „Ich möchte mich weiterhin für Europa einsetzen“, sagt sie. „Insbesondere gegen den Rechtsruck in europäischen Mitgliedsstaaten wie Italien oder Ungarn.“

Der Jurastudent Marius war im Gegensatz zu Miriam damals für Stuttgart 21 demonstrieren. Mobilität und Digitalisierung sind ihm wichtig. „Man sollte sich besonders für Zukunftsthemen einsetzen, wenn es um das Wohl künftiger Generationen geht.“ Bei einer Demo für mehr Breitbandausbau in östlichen und ländlichen Gebieten Deutschlands würde er mitprotestieren.

Der Lehramtsstudentin Miriam bereitet der Rechtsruck in Europa Sorgen. „Wählen gehen reicht nicht“, findet sie, man muss auch anders Stellung beziehen.

Demonstrieren? Nein, danke!

Andere sind nicht davon überzeugt, dass Demonstrationen oder andere Protestformen sinnvoll sind. „Nö“, sagt David. „Ich will meine Meinung nicht auf andere projizieren“, findet der Mathematik- und Theologiestudent. Viele andere Befragte waren ebenfalls noch nie demonstrieren. Trotzdem nennen sie Themen, für die sie sich in der Zukunft einsetzen würden. André, Jurastudent, hält Themen dann für besonders relevant, „wenn sie einen selber tangieren“, wie zum Beispiel Bafög oder Studiengebühren. Überraschend oft fällt das Stichwort „Tierschutz“, aber auch Umweltthemen generell  scheinen vielen ein Anliegen zu sein.

Protest geht auch digital vom Sofa aus

Aber Protest kann auch im Kleinen beginnen. Zum Beispiel mit dem Unterschreiben von Petitionen im Internet. Jonas, der Politik und öffentliches Recht studiert, macht das regelmäßig, egal ob es nun um das Bienensterben oder die Emissionen von RWE geht. Sich auch in sozialen Netzwerken zu politischen Themen zu positionieren, hält er für sinnvoll. „Manchmal like ich aber auch einfach nur die Kommentare, die besser sind, und nicht die blöden!“, sagt er und lacht. Vor kurzem war er in München bei einer Demo gegen das verschärfte Polizeiaufgabengesetz.

Auch im Internet kann man politisch aktiv werden. Jonas unterzeichnet wöchentlich Petitionen. Aber auch im „Real life“ geht er auf Demonstrationen.

„Ich möchte hinter einer Sache stehen“

Anastasia und Ella meinen, sie würden sich sofort gegen Paragraph 219a (Werbeverbot für Abtreibungen) auf die Straße stellen. Die Biochemikerin Anastasia berichtet von ihrem früheren Studienort Jena: „Einmal gab es einen Fackelmarsch von Rechtsradikalen und Neonazis, der ging direkt an meiner Haustür vorbei! Da habe ich natürlich bei der Gegendemo mitgemacht.“

Überlegt und durchdacht möchte Forogh, Lehramtsstudentin für Englisch und Theologie, protestieren. Deswegen hat sie es bis jetzt auch noch nicht getan. „Ich möchte auch wirklich hinter einer Sache stehen, deswegen brauche ich Zeit, mich zu entscheiden.“

„Als ich bei H&M gearbeitet habe, haben die MitarbeiterInnen einmal gestreikt, das ist ja auch eine Form des Protests“, erzählt Nele. Da sie kein Mitglied der Gewerkschaft ver.di ist, hat sie allerdings nicht mitgestreikt. Wofür sie sich einsetzen würde? „Gegen den steigenden Semesterbeitrag und das immer teurer werdende Semesterticket!“, meint die Studentin der Literatur- und Kulturtheorie. „Und für Menschenrechte natürlich.“

Der eigene Lebensstil als Protestform

Lohnt es sich denn überhaupt noch, zu demonstrieren, oder ist diese Protestform längst veraltet? „Es gibt viele Themen, die man nicht als Einzelperson bekämpfen kann oder für die man nicht alleine einstehen kann“, sagt Johanna dazu überzeugt.

„Demos sind ein gutes Mittel, der Politik zu zeigen, was einem wichtig ist.“

Die 20-jährige Umwelt- und Naturwissenschaftlerin nahm in ihrer früheren Heimat Berlin an zahlreiche Demos teil. Nur demonstrieren reicht aber auch nicht, stellt sie fest. „Wenn man etwas bewegen möchte, dann hilft es, dabei eine positive Einstellung zu haben und auch danach zu leben. Der eigene Lebensstil kann auch eine Art von Protest sein, zum Beispiel beim Veganismus.“ Trotzdem halte sie es für entscheidend, dass Veränderung auf verschiedenen Ebenen stattfindet. „Große Bewegungen sind einfach wichtig.“

„Das eigene Handeln darf nicht im Widerspruch zu dem stehen, wofür man protestiert!“, findet Johanna. Zu einer Demo für Klimaschutz fliegen wäre zum Beispiel extrem kontraproduktiv.

Fotos: Clara Thier

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