Muss Inklusion eine Utopie bleiben?

Sechs junge Menschen, sechs verschiedene Wege und ein Blick zurück auf das, was während und seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in einer Inklusionsklasse passiert ist. Mit der Dokumentation „Die Kinder der Utopie“ wurden diese Perspektiven am vergangenen Mittwoch im Kino Museum gezeigt. Die anschließende Diskussion regte zum Reflektieren darüber an, wo Deutschland nach 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention in Sache Inklusion steht.

Marvin und Christian sitzen auf einem Hausdach und beobachten, wie die Sonne über Berlin untergeht. Es ist viel passiert seit sie sich das letzte Mal gesehen haben und es gibt viel zu erzählen. Gemeinsam mit Johanna, Luca, Natalie und Dennis haben sie vor zwölf Jahren eine inklusive Grundschulklasse in Berlin besucht. In der Dokumentation „Die Kinder der Utopie“ von Hubertus Siegert treffen sie sich nun wieder und wagen einen Blick zurück. Ein Klassenkamerad trifft auf den nächsten, bis sich der Kreis schließt und sie gemeinsam an ihre alte Grundschule zurückkehren. Zwischen den Begegnungsszenen erzählen die einzelnen Protagonisten von ihrem Weg. Sie lassen Revue passieren wie sie sich entwickelt haben und erzählen davon wie die Zeit in der Inklusionsklasse sie geprägt hat. Während er über den Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen in seiner Studienzeit nachdenkt, meint Dennis:

„Wäre ich nicht Schüler einer Integrationsklasse gewesen, kann ich mir vorstellen, dass ich damit später größere Schwierigkeiten gehabt hätte“.

Johanna und Marvin bei den Dreharbeiten. Im Gespräch tauschen sie sich darüber aus wo sie im Leben stehen, was sie für Pläne haben und was sie mit ihrer Schulzeit verbinden.

„Wir [konnten] herausfinden, was aus den Kindern dieser Schule geworden war, deren Idee von echter Inklusion uns damals fast wie eine Utopie erschienen war.“

Schon im Jahr 2004 hatte der Regisseur die inklusive Schulklasse der Fläming-Schule in Berlin für die Dokumentation „Klassenleben“  begleitet. Die Klasse war damals eine der ersten in Deutschland, in der Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernten und war ein Beispiel dafür, wie Inklusion funktionieren kann. Der neue Film bildet daran anschließend einen zweiten Teil und lässt sechs junge Menschen über ihre persönlichen Erfahrungen in einer inklusiven Klasse zu Wort kommen. Alle sechs Protagonisten erinnern sich dabei an ein besonderes Klassengefühl, einen besonderen Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe, die in den weiterführenden Schuljahren, nachdem die Inklusionsklasse auseinanderging, verloren gingen. Jegliche Aussagen zu Diagnosen, Kommentare von Experten und Wertungen von Lehrern oder Eltern bleiben dabei bewusst aus. Abseits der bildungspolitischen Diskussion über Inklusion an Schulen bietet der Film so eine neue, persönlichere Perspektive auf das Thema und überlässt das Urteil seinen Zuschauer*innen.

„Inklusion kann nicht scheitern, weil Inklusion ein Menschenrecht ist. Was scheitert ist unser Schulsystem!“

Bei der anschließenden kurzen Diskussion waren Schulleiterin Frau von Kutzschenbach, Frau Rösch, Mutter einer Tochter mit Down-Syndrom, Frau Würz, Lehrbeauftragte am Englischen Seminar und selbst Rollstuhlfahrerin, und Prof. Dr. Bohl vom Institut für Erziehungswissenschaften zu Gast. Nach einigem Diskutieren waren sich alle über einen Punkt einig: Der Grundstein für gelingende Inklusion muss im Schulsystem gelegt werden und dies scheitert oft heute noch. Nötig sind mehr Lehrkräfte und bessere Ausstattung um Rahmenbedingungen für Inklusion an Regelschulen zu schaffen. Aber vor allem eins sei nötig, betonte Frau Rösch auf die Nachfrage einer angehenden Lehrerin, wie sie sich auf Inklusion in der Schule vorbereiten kann: Offenheit und Mut, die Sache anzugehen.

Luca und Natalie

Gesetze und Co. – Welche Rechte haben Menschen mit Behinderung in Deutschland?

Es gibt verschiedene Gesetze, die Menschen mit Behinderung in Deutschland schützen. Artikel 3 des Grundgesetzes besagt, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf und sichert so die gleichberechtigte Behandlung aller Menschen vor dem Staat. Weitere Gesetze stellen sicher, dass Formulare von Behörden barrierefrei erhältlich und leicht verständlich sein müssen oder Menschen bei der Bewerbung um einen Job nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden dürfen.

Seit 2009 gilt in Deutschland zudem die UN-Behindertenrechtskonvention. Grundsätzlich setzt die Konvention das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme aller Menschen am gesellschaftlichen Leben fest. Das bedeutet beispielsweise, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, in das allgemeine Bildungssystem integriert zu werden oder dass ein barrierefreier Zugang zu öffentlichen Gebäuden vorhanden sein muss. Die Unterzeichnung der Konvention galt als Meilenstein für Inklusion in Deutschland und erweckte Hoffnung auf Verbesserungen. Zehn Jahre danach ist die Bilanz über die Durchsetzung der gesteckten Ziele jedoch gemischt.

Manuela Würz hat Germanistik und Anglistik in Tübingen studiert und arbeitet als Lehrbeauftragte am Englischen Seminar.

Im Interview fragten wir Frau Würz nach ihrer persönlichen Einschätzung nach zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention:

Kupferblau: Was hat sich verändert, seit die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten ist?

Frau Würz: Leider nicht sehr viel. Die Gesetze sind die gleichen geblieben, die gab es auch schon vor den Konventionen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es heute mehr Aufklärungsangebote darüber gibt, welche Rechte Menschen mit Behinderung haben. Meine Eltern mussten sich damals noch selbst durch Gesetzestexte kämpfen.

Wie gut funktioniert Inklusion Ihrer Meinung nach, und wie steht Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern da?

Frau Würz: Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass es in Deutschland viel mit Glück zu tun hat, ob Inklusion funktioniert. Auf meinem Ausbildungsweg über das Abitur bis hin zum Studium hatte ich viel Glück mit den Menschen, die mir auf dem Weg begegnet sind. Hat man dieses Glück nicht, kann es sehr schwierig werden.
Was den Vergleich mit anderen Ländern angeht habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass beispielsweise Schottland beim Thema Barrierefreiheit viel weiter ist. Es gibt in nahezu jedem Laden oder Café barrierefreie Eingänge, Lifts oder sonstige Möglichkeiten, die es mir mit dem Rollstuhl leichter gemacht haben, mich frei zu bewegen. Deutschland ist von Barrierefreiheit in den allermeisten Städten weit entfernt. Stellen sie sich schon allein vor, wie schwierig es in der Tübinger Altstadt mit dem Rollstuhl ist.

Fotos:

Titelbild: Friederike Streib, Bild 1: Josephine Links, Bild 2: M. Bothor.

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