Nora Gomringer sagt von sich selbst, gepflegten Wahnsinn mit Sprache, das könne sie. Die Lyrikerin ist die aktuelle Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin und besuchte am Mittwochabend Tübingen. Im Hölderlin-Turm trafen sich Vergangenheit und Moderne, Witz und bitterer Ernst, Gomringer und Goethe.
„Ich werde jetzt etwas mit der Sprache machen.“ Nora Gomringer machte keine leeren Versprechungen. So begann im altehrwürdigen Hölderlin-Turm ein unterhaltsamer Abend in lockerer und freundlicher Atmosphäre. Die Gäste der gänzlich ausverkauften Lesung lauschten gebannt der Wortkünstlerin. „Ich werde etwas ganz Erstaunliches machen mit der Sprache!“, fährt sie fort.
Poesie als Coming-Out
Die 1980 geborene schweizerisch-deutsche Lyrikerin nahm die Gäste ihrer Lesung an die Hand und führte sie durch wahrhaftig erstaunliche Landschaften und Bilder, die sie in ihren szenischen Gedichten entwirft. Als Tochter eines Dichters und einer Germanistin schien ihr Werdegang natürlich schon vorgezeichnet.
Die Literatur sei ihr nie fern gewesen. Dass sie schreiben wolle, und es vor allem auch könne, das habe sie mit 20 gemerkt. „Ich habe meine Texte jemandem gezeigt, der nicht blutsverwandt ist, also nicht aus der Familie.“ Das positive Feedback ermunterte sie dazu, damit weiterzumachen.
Doch schwierig war damals, so sagte sie, dem Vater mitzuteilen, dass sie dasselbe wie er machen wolle. Eine Art „Coming-Out“ sei das gewesen. Hätte sie sich nicht der Lyrik verschrieben, wäre aus ihr eine Choreographin geworden – auch wenn man das jetzt nicht wirklich glauben könne, merkte sie augenzwinkernd an.
Ein tiefer Blick in die Dichterseele
Ein Blick zurück auf den vorangegangenen Nachmittag: Eine ausgewählte Anzahl an Teilnehmern absolvierte mit der mehrfach ausgezeichneten Autorin einen Workshop. In dessen Rahmen gewährt die frühere Poetry-Slammerin tiefe Einblicke in ihre Werke und deren Hintergründe.
Da sind auf der einen Seite die humorvollen Texte, während deren Vortrag kaum einer der Teilnehmer nicht mindestens kichern muss. Und dann sind da aber auch die dunklen, bedrohlichen Entwürfe ihrer Poesie. So wie in „Morbus“ (lat.: Krankheit). Andere schreiben über Liebe, sagt sie, sie lieber über Ängste. „Morbus“ stellt nach „Monster Poems“ den zweiten monothematischen Gedichtband einer Trilogie dar, deren Abschluss das 2017 erscheinende „Mode“ markieren wird.
Ihr Antrieb für diese Reihe sei gewesen, die Poesie wie eine wissenschaftliche Arbeit zu betreiben. Sammeln und streichen habe ihre Vorgehensweise in diesem Fall geprägt. Weiterhin sollten die Themen der Bände eine breite Oberfläche haben – etwas, mit dem jeder etwas anfangen könne. Im Verlauf des von den Studentinnen Melissa Schlecht und Anna Chatzinikolaou organisierten Workshops entwickelten sich noch angeregte Diskussionen um Wortbedeutungen und Wortspiele. Und Nora Gomringer konnte eine gewisse Freude über die rege Teilnahme nicht verbergen.
Lesung zwischen Angst und Schnecken
Zum Beginn der Lesung hatte sich Dunkelheit über den Neckar gelegt. Und still war es, als Gomringer das Gedicht über die zwei Frank-Schwestern, Margot und Anne vortrug. „Frau Typhus“ ist hier die personifizierte Angst, ein fassbares Wesen. Doch so bedrückend das Gedicht über die beiden in Bergen-Belsen ermordeten Schwestern, ist, so amüsant ist wiederum „Ein Ärgernis“, ein vorab eingereichter Wunsch aus Reihen der Zuhörer. Was die darin bedichtete Schnecke dort mache, das ist das zentrale Thema dieses Gedichts.
Wunderbar sinnbefreit und unglaublich unterhaltsam, unterstrichen von der eindrucksvollen Modulation ihrer Stimme, löst Nora Gomringer die zuvor erfahrene Betroffenheit aus den Köpfen der Gäste. Während der gesamten Veranstaltung versteht es die Leiterin der bayerischen Villa Concordia, dem einzigen stattlich geförderten Künstlerhaus Deutschlands, die Stimmung locker und freundlich zu halten. So lockert die Anekdote der Abiturientin aus Hamburg, die 2008 als einzige Gomringers Text „Das Herz“ wählte, auf.
Heulend habe diese sie am Telefon mit ihren Eindrücken und Ideen konfrontiert. Und, so sagt Nora Gomringer, ihr mit der Interpretation eine Freude gemacht. Dass sie in ihren Gedanken durchschaut worden sei, habe sie gefreut. Das Ende der Geschichte ist eine Musterinterpretation Gomringers selbst, die nach der Einreichung an das Kultusministerium der Abiturientin eine gute Leistung attestierte. Die andere Wahlmöglichkeit sei Goethe gewesen – doch den könne man ja schlecht anrufen, lacht sie. Somit hätte die Abiturientin ja alles richtig gemacht.
Herzensangelegenheit Poesie
Den Gewinn des Bachmann-Preis, eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen Deutschlands, hatte sie nicht wirklich fassen können, gab sie zu Protokoll. Damit gerechnet habe sie noch weniger. Am Abend vor der Preisverleihung war sie noch in „Die Minions“ ins Kino gegangen – um abschalten zu können. Und obwohl der Prosa- und Sieger-Text „Recherche“ objektiv gesehen ihr größter Erfolg ist, ist die Poesie doch ihre Herzensangelegenheit.
Sie sei aber auch froh, neben der Poesie als Leiterin der Villa Concordia noch einen „richtigen“ Job zu haben, der ihr von Zeit zu Zeit auch neue Impulse für ihre Passion gebe. Flüsternd endet dann ein unterhaltsamer, von Gegensätzen geprägter Abend. „Diesen Text gibt es gar nicht…“ haucht Nora Gomringer in den Hölderlin-Turm. Und beweist mit ihrem bodenständigen und nahbaren Auftritt, dass große Persönlichkeiten der Literatur keineswegs solitär existierende Denkmaschinen sein müssen, sondern lebendige Menschen im Hier und Jetzt sein können.
Homepage von Nora Gomringer: http://nora-gomringer.de/