DAS MÄRCHEN VOM AUSSTERBEN DER DISCODINOS

Das Tübinger „Clubsterben“ – Wahrheit und Fiktion

Facebook informiert: Das Tübinger Nightlife stirbt aus! Schnell geliked, Anteilnahme bekundet und Aktion („Rock the nightlife“) für gut befunden. Dauer des Vorgangs: 10 Sekunden. Aber was steckt wirklich dahinter?
ein Kommentar von Alexander Link

Es ist Freitagabend, Samstagabend oder als Student auch mitten in der Woche – und der eine oder andere fragt sich, wo man standesgemäß feiern gehen kann. Das ist neben dem Erstellen des eigenen Stundenplans eines der größten Probleme im Leben eines Tübinger Studenten.
Immer öfter hört man jedoch prophetische Geister heulen: Hier stirbt doch inzwischen alles aus! Das Schließen von Locations wie Mancuso oder dem Zoo, sowie das angekündigte Game Over des Blauen Turms zum Ende des Jahres 2012 erwecken bei dem einen oder anderen offensichtlich den Eindruck des nahestehenden Untergangs des Tübinger Nachtlebens. Facebook alarmiert, die Legende entsteht. Aber mal ernsthaft: Wie steht es um das Tübinger Nachtleben wirklich?
Fakt ist: Es stirbt nicht „alles aus“ – es steht kein Kometeneinschlag bevor. Leider schließen jetzt drei Locations, die sich in ihrer Vergangenheit hauptsächlich durch ihr „subkulturelles“ Angebot ausgezeichnet haben. Das ist zwar schade, bedeutet aber nicht, dass gleich alle Alternativen für einen individuellen Ausgeh-Abend völlig verschwunden sind. Was zu dem weiteren Vorwurf führt: „Was wir jetzt brauchen sind auch wieder mehr subkulturelle Angebote!“, bringt es Asli Kücük vom „Laden“ in der Südstadt auf den Punkt.
Das kann durchaus sein! Der Spitzname des wegen Alternativlosigkeit besuchten „Flop 10“ hält sich auf jeden Fall wacker. Die Vermutung bleibt, dass die Betreiber von den „Leuten, die das aus Verzweiflung als Location nutzen“ profitieren, so „Radau & Rabatz DJ“ Holger Kesten. Fakt ist, dass das TOP10 die einzige richtige Großraumdisco in Tübingen ist und mit dem vagen Begriff „Subkultur“ absolut nichts mehr zu tun hat. „Das TOP10 ist eine vollkommen andere Welt“, sagt Jürgen Eberhard, ehemaliger Betreiber vom Mancuso. Eine Welt voller David Guetta.
Aber das Defizit nun fehlender Alternativen immer und immer wieder mit dem eigenen Nasenblut auf die Segel des untergehenden Schiffes zu schreiben, wird keine Lösung herbeiführen. Quatsch ist natürlich die Behauptung unseres Oberbürgermeisters Boris Palmer, die Situation sei „heute sogar noch besser als früher“. Das ist Politiker-Schönrede-Taktik vom Reißbrett, gedacht um besorgte Bürger zu beschwichtigen. Wahrscheinlich weiß er selbst, dass das nicht stimmt. Eine Lösung für das Defizit zu finden, ist jedoch schwer. Wer in Tübingen auf Wohnungssuche war, weiß, wie der Immobilienmarkt hier aussieht: Mietpreise mit Lachgarantie und eine Angebotslage, bei der ein Ghetto vor den Toren der Stadt nur noch eine Frage der Zeit ist.  Zurecht konstatiert Palmer daher: „Wenn Sie mich fragen, was zuerst kommt, dann ist das das Wohnraumproblem.“ Das wird wohl jeder Tübinger verstehen können. Leider ist die ganze Stadt durchzogen von Wohnflächen, weil der Bedarf gigantisch ist. Das macht es schlicht und ergreifend schwer, geeignete Plätze für Clubs oder Ähnliches zu finden. „Selbst im Industriegebiet leben hier die Leut“, witzelt Jürgen Eberhard vom ehemaligen Mancuso. Nach eigener Aussage prüft die Stadt bereits „offensiv“ alle Nachfragen und Möglichkeiten – man sei da absolut kooperativ. Aber die Möglichkeiten sind gerade hier alles andere als spektakulär.
Man sollte daher vielleicht ein wenig bodenständig in der Debatte bleiben. Einem „Realo” drückt sich die Tränenflüssigkeit vor Lachen in die Augen, wenn Pläne in einer öffentlichen Diskussion vorgebracht werden, die den Turmbau zu Babel wie einen Baukastensatz von Lego aussehen lassen. Zum Beispiel, die Haaggasse zur Partymeile à la Reeperbahn umzufunktionieren und die Anwohnerinteressen  auszublenden.
„Interessensausgleich“ ist das von Palmer angemahnte Stichwort, frei nach der vorgebrachten Maxime „auch eine Familie muss die Chance haben, am Marktplatz zu leben“.
Man kann die Stadtplanung vielleicht in eine gewisse Richtung lenken, bestimmte Räume für Clubs in Zukunft einzuplanen. Man kann mit Anwohnern kooperieren, Ruhezeiten abklären und wirklich einmal nachfragen, wie die Bereitschaft denn ist, „Lärm“ temporär in Kauf zu nehmen. Aber man kann keinem das Recht absprechen, am Wochenende schlafen zu dürfen.
Bevor wir also mit dem Bauen fluffiger Luftschlösser anfangen, wäre das Installieren eines festen Arbeitskreises mit Vertretern der Gastronomie, der Clubbesitzer, vielleicht der Studentenschaft und der Stadt ein vernünftiger Anfangsplan. Dieser könnte dann potenzielle „Locations“ abwägen und Ziele für die Raumplanung definieren. Aber auf Fantasten, die gleich den Österberg zum Freizeitpark umbauen wollen, möge man dort vielleicht weniger hören.

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