Ihr Leben liegt unter Trümmern – trotzdem leben sie weiter. In seinem Drama „Meurtre à Pacot – Mord in Pacot“ schildert Regisseur Raoul Peck das Schicksal der Überlebenden des Erdbebens von Haiti und zeigt, dass das wirkliche Unglück erst nach dem Beben beginnt.
„La ville est mort – Die Stadt ist tot.“ Ungläubig wiederholt ein aufgebrachter und verzweifelter Mann (Alex Descas) diese Worte. Er sitzt vor einer kleinen Hütte, um ihn herum die Trümmer seines Hauses. Es tobt ein Kampf ums Überleben; nachts verbreiten wilde Hunde Panik und Angst. Der Mann ist mittleren Alters, seine sauberen Klamotten und die teure Brille sind alles, was er noch hat. Das Erdbeben hat ihm und seiner Frau (Joy Olasunmibo Ogunmakin) Hab und Gut genommen. Das Haus in Asche, der Wagen liegt unter Schutt, ihr geliebter Sohn verschwunden. Der Gestank des Todes ist allgegenwärtig, doch sie bemerken ihn nicht. Sie klammern sich weiter an ihren Wohlstand, den sie vor dem Beben genossen. Die Frau gräbt mit bloßen Händen in den Trümmern, sucht ihre Habseligkeiten. Der Mann versucht das baufällige Haus zu reparieren. Plötzlich erschüttert ein weiteres Beben die Erde, die ausgebesserten Wände reißen auf.
Zwischen den Trümmern ihres Lebens
Um das Haus vor dem Abriss zu schützen und Geld für die Reparatur zu bekommen, vermietet der Mann es an den Katastrophenhelfer Alex (Thibault Vinçon), einen Fremden. Begleitet wird Alex von der jungen Haitianerin Andrèmise (Lovely Kermonde Fifi), die von einem Leben in Europa träumt.
Schnell spitzt sich die Lage in der Wohngemeinschaft gefährlich zu. Das Erdbeben hat nicht nur die Erde geteilt, auch die Gräben zwischen den Menschen sind bedrohlich gewachsen – selbst die zwischen den Ehepartnern: Die traumatischen Erlebnisse setzen beiden zu. Der Verlust des geliebten Sohnes wird zum Tabuthema. Sein Schicksal ist ein Geheimnis, das man besser ruhen lässt.
Das Ehepaar hat sich seelisch und körperlich entfremdet, die Not ist zu groß. Einen Fluchtpunkt bietet die junge Andrèmise, deren Beziehung zu Alex mehr und mehr leidet. Ihrer Anziehungskraft verfällt nicht nur Alex, sondern auch das Ehepaar gerät in ihren Bann. Es entwickelt sich eine „Ménage à quatre“, deren Ende nicht jeder erleben wird, denn sie teilen ein tödliches Schicksal.
Die Probleme haben das Beben überlebt
„Meurtre à Pacot“ ist bereits Raoul Pecks zweiter Film, in dem er sich intensiv mit dem Schicksal der Überlebenden des Erdbebens von 2010 in Haiti beschäftigt. Während er für „Haiti: Tödliche Hilfe“ die Folgen der Katastrophe in Form eines Dokumentarfilms aufzeichnete, widmet er dem Thema nun ein fiktionales Drama. Einfühlsam und schonungslos zeigt er darin eine Familie, die unfähig ist, sich von ihrem Leben im Wohlstand zu trennen und in ihrem neuen Alltag unterzugehen droht. Inmitten dieses Überlebenskampfes thematisiert Peck die Probleme der Katastrophenhelfer. Ihnen fehlt die kulturelle Anbindung und die Einheimischen lehnen sie ab. Sie werfen ihnen pure Geldgier vor. Zugleich wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer: Die Reichen fühlen sich noch immer privilegiert, scheitern aber bereits an kleinen Aufgaben wie dem Wasserholen. Es wird deutlich, dass die Armen in dieser Notlage plötzlich überlebensfähiger sind.
„Meurtre à Pacot“ ist ein sozialkritisches Drama, das die großen Fragen von Gesellschaft und Politik thematisiert und deren Ursprung lange vor der Katastrophe einordnet. Durch starke Charakterzeichnung und eindrucksvolle Bilder werden die persönliche Verzweiflung der Überlebenden und ihr trostloser Alltag packend dargestellt.
MEURTRE À PACOT, Haiti / Frankreich / Norwegen 2014 – Regie: Raoul Peck. Buch: Pascal Bonitzer, Raoul Peck, Lyonel Trouillot. Kamera: Eric Guichard. Mit: Alex Descas, Joy Olasunmibo Ogunmakin, Thibault Vinçon, Lovely Kermonde Fifi. 130 Min.
Text: Tim Porzer (22) studiert im siebten Semester Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen und ist begeistert von Filmen, da sie in der Verbindung von Bild und Dialog Situationen und Gefühle wunderbar darstellen können.
Diese Filmkritik entstand im Rahmen des FestivalTV der Französischen Filmtage im Filmkritikworkshop von Hanne Detel, Institut für Medienwissenschaft, Uni Tübingen.
Fotos: Raoul Peck