Was ist typisch für Tübingen? In dieser Reihe geht es um die Facetten der Kleinstadt am Neckar. Sparsamkeit, Ordnung und die Kehrwoche werden den Schwaben oft nachgesagt. Auch in Tübingen sollen Studierende die Treppe fegen. Doch die vielen offensiven Bio-Käufer und Angeber nerven.

Vor ein paar Tagen erzählte mir eine Bekannte, dass sie und ihre Mitbewohner einen regelrechten Drohbrief von einem Anwalt bekommen haben. Weil sie im Treppenhaus nicht regelmäßig gekehrt haben, hat ihre Nachbarin einen Juristen beauftragt, die „jungen Leute“ zu verwarnen. Diese Geschichte zur schwäbischen Kehrwoche zeigt exemplarisch, warum man sich über manche Tübinger lange aufregen kann.

In vielen Mietverträgen ist genau (!) geregelt, wer wann Winterdienst hat, das Treppenhaus  putzen oder den Bürgersteig kehren muss.

Diese schwäbische Ordnung ist eine Kampfansage gegen zugemüllte Treppen. Sie maßt sich aber auch an, penibel zu regeln, wer wann seine Aufgaben zu erfüllen hat. Und welche Aufgaben das sind. Das ist das Gegenteil von lässig. Das ist so bieder.

Hausmitbewohner
„Jetzt kehrt endlich!“ So könnte ein Zettel in Tübinger Hausfluren aussehen. Foto: Julia Klaus

Von wegen Nabel der Welt!

Genau und sparsam: Diese Eigenschaften verbinden viele mit dem „Ländle“, wie die Region in ihrem nuschelnden Dialekt genannt wird. Dass einige Tübinger so sind, ist auch nicht schlimm. Vielfalt tut gut. Doch bekommt man diese Eigenschaften als „Reigschmeggde“ ständig unter die Nase gerieben, weil die Schwaben stolz darauf sind.

Tübingen bildet sich ein, der grüne und intellektuelle Nabel der Welt zu sein. Dabei ist die Stadt am Neckar nur eine Provinz. Sicherlich: Hegel, Hölderlin und Schelling wohnten hier auf einem Zimmer und durch die Uni gibt es heute Forschung und Firmen, Arbeitsplätze und Chancen nach dem Studium. Doch Angebern setzt man eben auch gern Gemeinheiten entgegen: Tübingen, du Provinz!

Jemand, der das Image als Neckar-Metropole unermüdlich vorantreibt, ist Boris Palmer. Der grüne Oberbürgermeister macht in den sozialen und überregionalen Medien von sich reden. Ob die Querelen zu Stuttgart 21 oder die aktuelle Flüchtlingskrise: „Ober-Boris“ hat immer eine Meinung, die ihn in die Tagesschau oder zu Lanz bringt.

Multitalent
Du sprichst Japanisch? Dann bewirb dich bei diesen fiktiven Eltern! Foto: Julia Klaus

Frei-von-Fanatiker

Aus einem Palmer-Interview ging auch der SPIEGEL-Artikel „Die grüne Hölle“ hervor, der sich um das Französische Viertel und seine Bewohner dreht. Auch fünf Jahre später erkennt man eine gewisse Sorte Tübinger darin wieder. Die bunten Häuser in der Südstadt sind ein Eldorado für Kleinfamilien, die vegane glutenfreie Bio-Produkte direkt vom Bauernhof aus der Region kaufen, aber häufig einen dicken Mercedes in der Garage stehen haben. Solche Bio- und Frei-von-Fanatiker, denen Alnatura zu Mainstream ist, trifft man nicht nur dort. Der Hype ist in Tübingen im Vergleich zu anderen Unistädten besonders ausgeprägt und wird offen gelebt.

Was ebenfalls unübersehbar im Stadtbild verwurzelt ist, ist die Uni. Fakultäten, Labore und Hörsäle stehen überall in der Stadt verteilt. Tübingen ist eine Uni – und die liebt sie auch. Die Studierendendichte ist eine der höchsten in ganz Deutschland. Das bringt junge Köpfe und neue Ideen an den Neckar – das sollte man nicht klein reden. Statt angeberischem „Schbäddzla, Porsche, Benz, mir Schwoba henns“ wäre eine Besinnung darauf sinnvoll. Denn ob das Treppenhaus nun sauber ist oder nicht, sollte nicht allein über Krieg und Frieden im Mehrparteienhaus entscheiden.

In dieser Reihe sind bereits erschienen: Wie die Uni nach Tübingen kam, Schwäbisch für „Reigschmeggde“ und Tübingen als Hot-Spot der Bio-Branche.

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