Was genau sind eigentlich Briefkastenfirmen? Und was macht der Kopf von Karl Marx auf einem Kreuzfahrtschiff? Bei diesen Fragen konsultierten Besucher und Besucherinnen der Kunsthalle am Montag, den 15. Mai, Professoren der Wirtschaftswissenschaften. Die derzeit laufende Ausstellung „KAPITALSTRÖMUNG“ konnte in einem interaktiven Rundgang sowohl aus künstlerischer als auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht betrachtet werden.
Für die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät gibt es dieses Jahr ein großes Jubiläum, ein Anlass, der auch schon den hochkarätigen Gast Horst Köhler nach Tübingen lockte. Die Wirtschaftswissenschaft feiert primär das 200-jährige Bestehen ihrer eigenen Disziplin an der Universität Tübingen, sie feiert aber auch den interdisziplinären Austausch, und dies nicht nur mit Nachbardisziplinen aus der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät. „Perspektiven der Wirtschaftswissenschaft“, so der Titel der Jubiläums-Ringvorlesung im Rahmen des Studium Generale, werden in diesem Semester sonst jeden Montag im Kupferbau erörtert. An diesem Montag hingegen ging es eher um Perspektiven durch die Wirtschaft, nicht für die Wirtschaft, und die Frage lautete: Wie können Themen in der Kunst wirtschaftswissenschaftlich erklärt werden?
Freie Dialoge statt absoluter Antworten
Um die künstlerische und die wirtschaftliche Perspektive zu vereinen, organisierten Holger Kube Ventura, Kurator der Ausstellung „KAPITALSTRÖMUNG“ in der Kunsthalle, und Prof. Dr. Dominik Papies, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Uni Tübingen, einen interaktiven Ausstellungsrundgang. Acht Professoren mit unterschiedlichen Fachgebieten wie Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Finance und Bankwirtschaft stellten sich mit Megafonen ausgerüstet für Fragen zur Verfügung und kamen mit den Besuchern ins Gespräch. Die Megaphone sollten hierbei das einzige sein, das letztgültige Autorität ausstrahlte. Denn das mache die Kunst ja auch aus – dass sie „Dinge verdeutliche, aber letztlich ambivalent bleiben“, so Holger Kube Ventura.
Von Blumentopf-Banken, Briefkastenfirmen und Karl Marx
Eine kritische Stoßrichtung wird jedoch deutlich. Die Werke dieser Ausstellung lassen die Blase der Schönheit um ihrer selbst willen eindeutig platzen und greifen aktuelle Ereignisse auf. Die Fotoreihe “The Heavens“ von Paolo Woods und Gabriele Galimberti etwa zeigt Menschen in Steuerparadiesen wie den Kaimaninseln und den Britischen Jungferninseln. Entrückt von gesetzlichen Auflagen und von alltäglichen Lebenswelten thronen Superreiche im Auftrieb von Jetpack-Strömungen und in Dachterrassen-Pools inmitten von Wolkenkratzern.
Diese Fotoserie gehört für Kube Ventura zu seinen Lieblingen der Ausstellung – der größte Blickfang aber ist das Bild „Venedig Refugee/ Non Citizen Protest Camp – gegen Grenzen, Nation und „die ganze ökonomische Scheiße‘“ von Holger Wüst.
„Gespenstisch“ blickt einen schon während der Begrüßung zur Ausstellung Karl Marx‘ Kopf an, der am Ufer von Venedig an einem Kreuzfahrtschiff voller Geflüchteter prangt. „Ob die Flüchtlinge gerade in Venedig ankommen oder von Venedig wegfahren, ist unklar. Jedenfalls sind Touristen auf Kreuzfahrt in Venedig unerwünscht und nutzlos. Das Bild verbindet also Tourismusströme mit Flüchtlingsströmen“, erklärt der Kurator. Für den Künstler selbst hatten die Touristen jedenfalls einen großen Nutzen – er schnitt sein Werk, das sich über eine ganze Wand erstreckt, aus Touristenbildern und Bildern eines Flüchtlingscamps zusammen.
Karl Marx reist in dieser Ausstellung nicht nur nach Venedig, sondern auch nach Berlin: „Zum Schuldenabbau“ überweist eine Künstlerin jeden Tag einen Cent an das Bundesfinanzministerium, wobei sie bei den jeweiligen Verwendungszwecken sukzessive „Das Kapital“ von Marx niederschreibt. Für die hohe Verschuldung werden auch Banken verantwortlich gemacht und als Blumentöpfe architektonisch modelliert.
Kapitalströmungen in der Kunst
Insgesamt werden also unterschiedliche Kapitalströme dargestellt: Die Ströme von „Humankapital“, die Kapitalsucht von Banken, die Kapitalflucht auf Steueroasen. Auch die Auswirkung von Kapitalströmen auf die Kunst selbst ist Thema. Prof. Dr. Wilhelm Kohler erklärt, wie Preisblasen im Kunsthandel zustande kommen, er beschreibt den Prozess nüchtern: „Wir sind da leidenschaftsloser.“ Trotzdem sei nach wie vor die individuelle Wertschätzung von Kunstwerken wichtig. Die Kunst ist also wohl noch nicht zum Spielball der Wirtschaft geworden – hier in der Kunsthalle bespielen sich Kunst und Wirtschaft im Dialog gegenseitig.
Die Ausstellung kann noch bis zum 11. Juni in der Kunsthalle besucht werden. Öffnungszeiten: Dienstags von 11-19 Uhr und von Mittwoch bis Sonntag von 11-18 Uhr.
Fotos: Alexa Bornfleth