Der Hörsaal 25 des Kupferbaus war voll besetzt, der Livestream hatte über 2.500 Aufrufe: Bei der von der Liberalen Hochschulgruppe (LHG) Tübingen organisierten Veranstaltung „Christian Lindner meets Uni Tübingen“ sprach der polarisierende Posterboy der FDP am Mittwoch über Bildungspolitik, über andere Bundestagswahlthemen und war danach für alle Publikumsfragen offen.
Christian Lindner ist das Gesicht der FDP: NRW-Landesvorsitzender, Bundesvorsitzender, Spitzenkandidat, 23.600 Follower bei Instagram. Direkt vor der Veranstaltung habe er bereits zwei Interviews gegeben, so die Tübinger LHG-Vorsitzende Kira Scholler. Die LHG dankte vor allem den vielen Studierenden, die trotz der Hitze gekommen waren.
Lindner selbst witzelte zum Einstieg über den verspäteten Tübinger OB, „die Ein-Mann-Störgruppe Boris Palmer“—eine Anspielung auf die Proteste gegen seinen Vortrag an der Uni Bochum. Für Lindner stellt sich die „eigentliche Gerechtigkeitsfrage“ in Deutschland nicht in der Steuerpolitik, sondern beim Zugang zu Bildung. Um diese stehe es aber durch Benachteiligungen für junge Menschen ohne akademischen Familienhintergrund und 50.000 Schulabbrüche pro Jahr schlecht.
Schon in Kindertagesstätten und Schulen soll das Problem mit Sprachförderung und umfangreicherer Betreuung an der Wurzel gepackt werden. Zugleich sei aber eine „Überakademisierung“ durch ein Abi für alle nicht sinnvoll. Eine neue Wertschätzung für Ausbildungen sei nötig, der Meister müsse genau so viel wert sein wie der Master.
Sein Konzept von Bildungspolitik macht Lindner an drei Hauptpunkten fest: Digitalisierung sei sinnvoll zu nutzen und Lernvideos, Materialsammlungen oder auch Google Maps in Geographie könnten den Lernerfolg stark erhöhen, so lange weiter wichtige Grundlagen vermittelt würden. Gespielt empörte er sich über das Handy-Verbotsschild und die alte Tafel im Hörsaal.
Ein zweites Problem ist laut Lindner, dass der Bildung der Wirtschaftsbezug fehle. Mehr Start-Up-Gründerinnen und -Gründer sollten in den Hörsälen ihre Leidenschaft vermitteln. Drittens sei der Zustand vieler Bildungsstätten in Deutschland inakzeptabel—von maroden Toiletten bis zu herabfallenden Decken. Zur Verbesserung der Zustände müssten Bildungseinrichtungen gesamtstaatlich gefördert werden, nicht wie bisher auf Länderebene, forderte Lindner.
In der anschließenden Diskussion äußerte sich Lindner unter anderem zum in Tübingen brisanten Thema der Gentrifizierung. Eine Deckelung durch günstige Neubauwohnungen sei sinnvoll, er meinte aber auch:„Ohne Gentrifizierung hätten wir heute noch Toiletten auf der Zwischenetage.“ Außerdem plädierte Lindner immer wieder für mehr Eigenverantwortung: im Kampf gegen postfaktische Parolen, im Umgang mit ungesunden Substanzen oder Hobbys und vor allem in der lebenslangen Karriereplanung.
Die spätere Rendite eines Studiums rechtfertige Studiengebühren, erst recht im Vergleich zu kostenpflichtigen Ausbildungen, so Lindner. Zunächst sei die Qualität der Bildungseinrichtungen—von der Kita bis zur Uni—zu verbessern, bevor sie gebührenfrei gemacht werden könnten. Als ein Student seine persönliche Lage erklärte, in der ihm ein Studium mit Studiengebühren nicht möglich gewesen sei, kommentierte Lindner süffisant: Wer sich nicht zutraue, mit dem Einkommen nach dem Abschluss die Gebühren nachzahlen zu können, habe vielleicht das falsche Fach gewählt.
Protest gab es diesmal mit „Bullshit“-Pappschildern statt mit lautstarken Pöbeleien. Lindner selbst ging mit den Fragen humorvoll um, sparte aber nicht an Sticheleien gegen Kritiker insbesondere aus dem linken Spektrum. Zum Abschluss meinte er: „Nehmen Sie‘s sportlich, wenn ich zu scharf war.“ An Selbstvertrauen mangelt es dem Kanzlerkandidaten jedenfalls nicht: Auf die Frage, mit welchem Charakter aus Game of Thrones er sich vergleichen würde, antwortete Lindner: „Die FDP ist eindeutig Jon Snow—auferstanden von den Toten!“
Fotos: Lukas Kammer