Das „Refugee Programm“ der Universität Tübingen bereitet Geflüchtete ein Jahr lang auf den Einstieg in den deutschen Studien- und Arbeitsalltag vor. Während an anderen Unis vor allem Sprachkurse angeboten werden, setzt man hier auf einen allumfassenden Ansatz. Ziel ist die Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft und Kultur in allen Variationen.
„Ist diese Gruppe eine vielfältige Gruppe?“, fragt der Dozent Lucas Ogden, die Tafelkreide in der Hand, gespannt seinen Kurs anblickend. An der Tafel steht das Thema der heutigen Stunde groß angeschrieben: „Diversität = Vielfalt“. Zwanzig junge Menschen betrachten sich gegenseitig. Von außen betrachtet sieht mancher vielleicht eine relativ homogene Gruppe, jung, meistens männlich und fast alle arabisch aussehend. Doch es vergeht nur ein Bruchteil einer Sekunde, dann erklingt aus mehreren Ecken bereits ein deutliches „Ja, klar!“. Die Sache steht für die Teilnehmenden außer Frage. Sie zählen auf: Es gibt unterschiedliche Sprachen, zum Beispiel Arabisch, Kurdisch und Persisch, Amerikanisch (der Dozent) und Deutsch natürlich. Dazu kommen unterschiedliche Religionen, Nationalitäten, Geschlechter, Lebensweisen und politische Meinungen.
„Interkulturelle Kommunikation“ als Unterrichtsfach
Diese, auf den zweiten Blick doch so heterogene, Gruppe sind die Teilnehmenden des „Refugee Programms“ der Uni Tübingen. Neun Monate lang werden Geflüchtete dort auf ein Studium oder eine Ausbildung in Deutschland vorbereitet. Ihr Stundenplan ist voller als der mancher Studierenden. Vormittags gibt es Deutschunterricht, nachmittags Fächer wie „Politik und Geschichte“, „Interkulturelle Kommunikation“ oder eben „Leben in der modernen deutschen Gesellschaft“. Wahlfächer sind das englische „Academic Writing“, Mathe und auch Kreatives Schreiben.
„Sprache ist nur die Spitze des Eisberges“
Die meisten der Teilnehmenden sind seit fast zwei Jahren in Deutschland und können sich bereits gut auf Deutsch verständigen. Zum Studieren reicht es noch nicht, dazu benötigen sie mindestens C1-Level. Dass der Stundenplan sich dennoch nicht nur auf die deutsche Sprache fokussiert, sondern so vielfältig gestaltet ist, hat gute Gründe: „Sprache ist nur die Spitze des Eisberges“, meint Dr. Christine Rubas, die Leiterin der 2016 gegründeten Stabsstelle für Flüchtlingskoordination an der Universität. Es sei genauso wichtig, dass sich die Geflüchteten auch mit der Kultur und den Werten, denen sie hier in Deutschland begegnen, auseinandersetzen.
Bei den Bewerbungen wird stark selektiert
Im Büro von Christine Rubas hängen Bilder aller Teilnehmenden an einer großen Magnetwand. Zweimal im Semester kommen die Geflüchteten in die Sprechstunde und geben Feedback, dadurch soll dafür gesorgt werden, „dass niemand aus dem Programm fällt“. Das Refugee Programm findet bereits mit dem zweiten Jahrgang statt. Es wird über ein Sonderprogramm für Geflüchtete des DAAD+ und des Bildungsministeriums finanziert. 2017 gab es 300 eingereichte Bewerbungen für die zwei Kurse mit insgesamt 40 Plätzen – Zahlen, die für die Attraktivität des Programms sprechen, aber auch für den begrenzten finanziellen Spielraum.
Neue Freundschaften entstehen
Unter denen, die es geschafft haben, einen der begehrten Plätze zu ergattern, ist auch Judi (22) der ursprünglich aus Kurdistan kommt und jetzt in der Weststadt lebt. Wie viele andere ist er extra für den Kurs nach Tübingen gezogen. Ein Freund hatte ihm damals von dem Programm berichtet, für das auf der Facebookseite „SWR for Refugees“ geworben wurde. In seiner Freizeit trifft sich Judi viel mit seinen Freunden aus dem Kurs, gemeinsames Kochen ist dabei eine beliebte Aktivität. Auch für Malek (22) aus Aleppo, bedeuten die durch den Kurs neu gewonnenen Kontakte viel. Er wohnt in einem kleinen Ort bei Nürtingen und hatte davor nur wenig Kontakt zu Gleichaltrigen.
Deutsche „Buddys“ begleiten die Teilnehmenden
Damit die Teilnehmenden noch besser im deutschen Studierendenleben ankommen, betreut das StudIT-MmF Team (StudIT für Menschen mit Fluchterfahrung) ein Buddy-Programm, bei dem alle Teilnehmende einen deutschen Buddy zugeteilt kriegen. Gemeinsam werden Ausflüge unternommen, Stammtische veranstaltet, in der Mittagspause zusammen gegessen, gekocht oder gefeiert. Die studierenden Buddys sind auch dafür da, um die Teilnehmenden bei Sprach- oder Organisationsproblemen zu unterstützen.
„Durch das Buddy-Programm ist es viel spannender, wir bekommen noch viel mehr vom deutschen Uni-Alltag mit“, erklärt Malek. Aber auch ohne ihre Buddys bleibt der Unterrichtsalltag der Geflüchteten dank zahlreicher Exkursionen abwechslungsreich. Vom Reichstagsgelände in Nürnberg bis zum Porschemuseum in Stuttgart, mit der (süd-)deutschen Geschichte kennen sich die meisten mittlerweile gut aus.
Familienängste und Zukunftssorgen
Trotzdem ist es alles andere als einfach, vollständig im Alltag hier anzukommen. Die meisten Geflüchteten haben ihre Familie in ihrem Heimatland zurückgelassen, viele davon in Syrien. Täglicher Kontakt via Whatsapp erleichtert den Trennungsschmerz zwar etwas, beseitigt ihn aber nicht. Zu den Sorgen um Angehörige mischen sich traumatische Fluchterfahrungen, aber auch Ängste und Zweifel über die Zukunft in Deutschland: Was passiert nach den drei Jahren Aufenthaltsgenehmigung, die für die meisten gelten? Was, wenn man kein Studium oder keinen Job findet?
Um für diese Probleme Lösungsansätze anzubieten, besuchte der Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut Ahmed Karim die beiden Kurse mehrmals. Ahmed Karim, welcher auch am Tübinger Universitätsklinikum forscht, rät den Geflüchteten, eine Liste mit den Dingen zu schreiben, die sie den Tag über belasten. „Es ist wichtig, wann ihr über etwas nachdenkt. Jeder von euch hat bestimmte Sachen, die einen belasten. Wenn man etwas aufschreibt, dann wird es endlich, dann verschwindet die Spirale an Gedanken.“
„Wir haben keine Alternative zu Deutschland.“
Während Herr Karim anfängt, Probleme in Kategorien einzuordnen, ist es mucksmäuschenstill im Seminarraum geworden. Alle Augen sind nach vorne gerichtet. Danach soll sich jeder seine Probleme konkret aufschreiben. Ein paar werden als Beispiele im Plenum behandelt. „Ich habe Angst vor der Zukunft“, sagt eine junge Frau. Ein junger Mann meint: „Wir haben keine Alternative zu Deutschland. Wenn jemand zu uns sagt: Tschüss, zurück nach Syrien – was sollen wir dann machen?“
Zum Abschluss soll eine Übung zeigen, wie man seine Gedanken auf positive Themen leiten kann negative Dinge „wegschiebt“. Die kurze „Therapiestunde“ scheint alle sehr betroffen zu haben. Eine richtige Therapie bezahlt zu bekommen, ist dagegen schwierig. Dabei sind zahlreiche Menschen mit Fluchterfahrung eigentlich therapiebedürftig.
Viele Wege führen zum Traumjob
Über ihre Wünsche und Perspektiven für Arbeit und Beruf machen sich die Teilnehmenden natürlich auch Gedanken. Malek möchte Politikwissenschaft studieren. Kani würde gerne Medizintechniker werden. Dalia will Landwirtin werden. Judi ist sich noch nicht sicher. Um sie bei ihren Zielen zu unterstützen vermittelt ein wöchentlicher Kurs Kompetenzen und Bewerbungstraining für Beruf und Arbeitswelt. Zulassungsbedingungen und dergleichen können die Geflüchteten nur noch bedingt schocken – den Kampf gegen die deutsche Bürokratie haben sie schon vor langem aufgenommen.
Die Absolventen und Absolventinnen des letzten Jahrgangs haben ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen. Manche von ihnen studieren mittlerweile, unter anderem Medizin, BWL oder Computerlinguistik, zwei sind an einer dualen Hochschule, einer macht eine Kaufmannsausbildung. Einige bereiten sich im Heidelberger Studienkolleg auf die C1 Sprachprüfung vor, weil sie etwas mehr Zeit brauchen.
Zurück im Unterricht
Zum Thema Vielfalt steht inzwischen schon eine Menge an der Tafel. „Ist das denn ein Problem, so unterschiedlich zu sein?“, fragt Herr Odgen. Wieder folgen die Antworten prompt. „Überhaupt nicht.“ „Man sollte nur niemandem schaden.“ „Am wichtigsten ist es, respektvoll miteinander umzugehen.“
Kein Widerspruch. Erneut scheinen sich alle einig zu sein. Vielleicht sollte man anfangen, nicht nur den Teilnehmenden des Refugee Programms „Leben in der modernen deutschen Gesellschaft“ zu lehren, sondern auch anderen.
Bilder:
Titelbild: StudIT MmF
Alle anderen Bilder: Marko Knab