„Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“

Zwischen Wohnungsnot, Integration und „Wir schaffen das“- am Dienstagabend sprach Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer im evangelischen Studierendenwohnheim Karl-Heim-Haus über die kommunale Asylpolitik, sein Buch „Wir können nicht allen helfen“ und die Altersfeststellung bei Geflüchteten.

„Ich fände es toll, wenn die Kanzlerin hin und wieder anrufen würde, aber so bedeutend ist Tübingen nicht“. Palmers Aussage, die im Raum für Gelächter sorgte, hatte für ihn und die Stadt Tübingen seit dem Frühherbst 2015 einen durchaus ernsten Hintergrund. Für Tübingen, in dem nicht zuletzt für die Studierenden Wohnungsnot herrsche, sei es nicht einfach gewesen, hunderte von Geflüchteten adäquat unterzubringen. Palmer betonte, dass Merkels „Wir schaffen das“ zwar eine nette Parole gewesen sei, die besonders auf kommunaler Ebene keine Probleme gelöst hätte. Vielmehr hätte er sich finanzielle Unterstützung und den Abbau von bürokratischen Hürden gewünscht.

Palmer kritisierte außerdem die Tatsache, dass Geflüchtete monatelang unkontrolliert über deutsche Grenzen einreisen konnten. Rechtlich sei dies nicht abgesichert gewesen. Palmer betonte, dass die Schließung der Balkanroute aus Tübinger Sicht eine gute Entscheidung gewesen sei, die der Stadt Zeit verschafft habe. Einem andauernd starken Strom von Geflüchteten wie zuvor wäre die Stadt laut Palmer nicht gewachsen gewesen.

Buchtitel soll Fokus auf Fakten lenken

Thema des Abends war darüber hinaus auch Palmers Buch „Wir können nicht allen helfen“. Mit diesem Titel habe er dazu beitragen wollen, Fakten wieder in den Vordergrund zu rücken. Wer den Satz „Wir können nicht allen helfen“ fallen lasse, werde allzu oft mit emotionalen Reaktionen, sowohl aus dem rechten, als auch aus dem linken Lager konfrontiert. Dabei sei es Fakt, dass Deutschland nicht alle fliehenden Menschen dieser Welt adäquat aufnehmen könne.

Trat gewohnt selbstsicher und zuweilen provokativ auf – Tübingens Oberbürgermeister Palmer.

Besonders zu einem Satz gab es seitens der Zuhörerinnen und Zuhörer einige kritische Nachfragen. Palmer hatte in seinem Buch geschrieben, dass die Flucht nach Deutschland ein Glück für die Geflüchteten war, nicht aber für Deutschland selbst. Auf Nachfrage begründete er diese Aussage damit, dass gerade auf Kommunen wie Tübingen erheblich mehr Aufwand und Arbeit zugekommen sei. Die Aufnahme von Geflüchteten sehe er daher mehr als Pflicht an und weniger als Glück.

Uneinigkeit bei Altersfeststellung von Geflüchteten

Heftig diskutiert wurde auch das Thema der Beweislastumkehr bei der Altersfeststellung von Geflüchteten. Palmer hatte sich dafür ausgesprochen, Geflüchtete automatisch als Erwachsene zu behandeln, wenn sie ihre Minderjährigkeit nicht nachweisen können. Wer keine entsprechenden Papiere vorlegen könne, solle sich einer Röntgenuntersuchung der Hand unterziehen, mit der man das Alter bis auf zwei Jahre genau bestimmen kann. Palmer reagierte auf Ressentiments gegenüber diesem Thema auf seine Art: Er bat um Handzeichen, wer sich für 40.000€ die Hand röntgen lassen würde.

So gut wie alle Hände im Raum gingen nach oben. Damit wollte Palmer deutlich machen, dass es sich bei dieser Untersuchung um einen einfachen Eingriff handle, der für den Staat die Kosten von 40.000€, die ein minderjähriger Geflüchteter verursache, erheblich senke. Ein Urlaub im Bayrischen Wald würde für mehr Strahlenbelastung als dieser Eingriff sorgen, bemerkte Palmer mit einem Augenzwinkern. Dabei spielte er auf die radioaktive Verseuchung des Bayerischen Walds nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl an. Überzeugen konnte er damit allerdings die wenigsten Anwesenden, da vor allem der mit einer solchen Untersuchung einhergehende Eingriff in die körperliche Unversehrtheit kritisiert wurde.

Fotos: Tabea Brietzke

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