Dass „Identität“ viele Facetten hat, hat uns die bisherige Kupferblau-Themenwoche gezeigt. Auch in der Wissenschaft wird unterschiedlich mit diesem Begriff umgegangen: Im folgenden Interview berichten Claudia Friedrich, Lehrstuhlinhaberin für Entwicklungspsychologie, und Thomas Sattig, Lehrstuhlinhaber für Theoretische Philosophie, von den Vorstellungen des Selbst, von Über-Ich und Es und darüber, ob mehrere Personen in einem Körper „wohnen“ können.
Welches Verständnis von „Identität“ hat man in Ihrer jeweiligen Disziplin?
Friedrich: In der Psychologie ist Identität eng mit dem Konstrukt des „Selbst“ verbunden. Das Selbst besteht aus dem Wissen um das, was die eigene Person ausmacht – Neigungen, Interessen oder typische Verhaltensweisen. Zusätzlich fließt in das Selbstkonzept aber auch ein, wie andere mich bewerten bzw. wie ich denke, dass andere mich bewerten. Das Selbstkonzept ist eben immer auch mit sozialen Vergleichsprozessen verbunden. Aus meinen eigenen aktuellen Bewertungen der verschiedenen Aspekte des Selbstkonzeptes bildet sich dann mein Selbstwert – sozusagen die emotionale Komponente des Selbst.
Und in der Philosophie?
Sattig: Der zentrale Begriff der Identität in der Philosophie ist der Begriff der numerischen Identität. Jedes Ding ist numerisch identisch mit sich selbst und mit keinem anderen Ding.
Was heißt das für den Menschen?
Sattig: In der Metaphysik und Philosophie des Geistes fragt man sich in Bezug auf Identität vor allem: ‚Was macht eine Person zu einem Zeitpunkt identisch mit einer Person zu einem anderen Zeitpunkt?‘ Mit anderen Worten: Unter welchen Bedingungen beginnt eine Person zu existieren?
Haben sich diese Überlegungen zum Identitätsbegriff über die Zeit hinweg verändert?
Friedrich: Historisch wurden in der Psychologie erklärende Ansätze gewählt, deren empirische Überprüfbarkeit keine zentrale Bedeutung hatte. In der Tradition der Psychoanalyse wurden innerpsychische Konflikte und deren Lösung als entscheidend für die Entwicklung des Selbst angesehen. Bei den Annahmen Siegmund Freuds kollidieren die Wünsche des „Es“ und des „Über-Ich“ und müssen durch das vermittelnde „Ich“ gelöst werden. Dabei geht es vor allem um psycho-sexuelle Konflikte. Heute würde man eher von Entwicklungsthemen in den unterschiedlichen Lebensphasen sprechen und mehr auf Empirie setzen.
Sattig: Philosophische Fragen zur Identität von Person und selbst werden seit der Antike diskutiert. Zeitgenössische Antworten weichen von traditionelleren Perspektiven u.a. im Hinblick auf die Berücksichtigung von Erkenntnissen in den vergleichsweise jungen Kognitionswissenschaften ab.
Würde Sie sagen, dass man als Person die eine Identität hat?
Sattig: In der Philosophie fragen wir, ob mehr als eine Person in einem Körper ‚wohnen‘ kann. Die Antwort hängt davon ab, wie die Identität einer Person verstanden wird. Falls die Identität einer Person vollständig durch die Identität eines biologischen Organismus erklärt wird, dann lautet die Antwort ’nein‘. Wenn man personale Identität aber durch persönlichkeitsrelevante psychologische Faktoren erklärt, dann können verschiedenen Personen durchaus in einem Körper ‚wohnen‘.
Friedrich: Man würde schon von einem Selbst sprechen – über die Zeit erhalten allerdings verschiedene Aspekte unterschiedliche Gewichtung. Das Wissen über meine Eigenschaften und Fähigkeiten in verschiedenen Situationen nimmt natürlich mit dem Alter zu. So lerne ich auch, , dass diese Aspekte je nach Kontext variieren können. Eine Jugendliche kann im Elternhaus zum Beispiel eher verschlossen und in sich gekehrt sein oder mit ihren Eltern gar nicht harmonieren. Von Gleichaltrigen wird sie dagegen als gesellig wahrgenommen und fühlt sich in dieser Gruppe auch als sehr sozial kompetent. Die Frage „Wer bin ich?“ ist damit als Entwicklungsthema zu verstehen. Sie nimmt eine zentrale Bedeutung im Jugendalter ein. Bis ins junge Erwachsenenalter bleibt das Selbst noch weniger stabil als in späteren Entwicklungsabschnitten. Das heißt aber nicht, dass die Entwicklung des Selbst dann irgendwann abgeschlossen ist. Das Ganze bleibt ein lebenslanger dynamischer Prozess.
Vielen Dank!
Titelbild: Andrej Stern
Fotos: Heinz Heiss/Universität Tübingen, Thomas Sattig