Julian lebt seit neun Jahren mit der Diagnose Autismus. Seit einigen Jahren hält er Vorträge über seinen Alltag und will Bewusstsein für das Thema schaffen. Am vergangenen Mittwochabend war er im Psychologischen Institut der Uni Tübingen mit seinem Vortrag „Autismus – Ein autobiographischer Alltagsbericht“ zu Besuch. Lustig, offen und ganz persönlich erzählte er vor vollbesetztem Hörsaal von seiner Kindheit, alltäglichen Herausforderungen und gab Tipps zum Umgang mit Menschen mit Autismus.
Julian ist 27 Jahre alt und hat mit achtzehn die Diagnose Autismus-Spektrums-Störungen bekommen. Für ihn war dies kein negativer Einschnitt in sein Leben, viel mehr bedeutete die Diagnose Freiheit und die Möglichkeit mit der Sicherheit darüber, dass er Autist ist, zu überlegen wer er sein will und wie er sein Leben weiter gestalten will.
In seiner Kindheit wurden die Schwierigkeiten, die er hatte, von Ärzten und Pädagogen das eine Mal als körperliche und das andere Mal als geistige Behinderung eingestuft. Nachdem er auf einer Familienfeier ein Gespräch über Autismus führte und er mehr darüber recherchierte, ahnte er selbst zum ersten Mal, dass er Autist sein könnte. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekam er die Diagnose dann schwarz auf weiß. Er bekam therapeutische Begleitung und machte trotz vieler Gegenstimmen das Fachabitur und eine Ausbildung. Heute arbeitet er auf dem ersten Arbeitsmarkt als Verwaltungsfachangestellter und begann vor einigen Jahren, Vorträge über sein Leben und seinen Werdegang zu halten.
Der Autismus bei Julian
Die Autismus-Spektrums-Störungen äußern sich bei jedem Betroffenen unterschiedlich und sind tagesformabhängig. Bei Julian machen sie sich unter anderem durch das Bedürfnis nach klaren Strukturen bemerkbar. Er erzählt, dass er zum Beispiel bei einem mehrtägigen Ausflug nach Berlin ein Outfit für jeden Tag parat vorbereitet hatte, eingeschweißt und verpackt in einer Plastikbox.
Außerdem sind soziale Interaktionen für ihn eine Herausforderung. Durch den Autismus ist Julians soziale Wahrnehmung verschoben. Es fällt ihm schwer, in zwischenmenschlicher Interaktion intuitiv richtig zu reagieren und die Emotionen Anderer wahrzunehmen und einzuschätzen. Hier helfen ihm Freunde und Familie, die ihm sozial komplexe Situationen erklären. Auch er selbst hat sich eine Art ‚First-Aid-Kid‘ für solche Situationen angeeignet: Sein breites Allgemeinwissen und seine Erfahrungen verhelfen ihm, für Gespräche mit den verschiedensten Personen über jegliche Themen gewappnet zu sein. Wider vieler Klischees über Autisten ist er jedoch kein Mathe-Ass. Von allem was mit Zahlen zu tun hat lasse er lieber die Finger, erzählt er. Trotz der alltäglichen Herausforderungen hat der Autismus für ihn aber auch positive Seiten: Er ist selbstdiszipliniert und kann in emotional aufgeladenen Situationen sachlich bleiben, Kompromisse finden und schlichten.
„If you’ve met one person with autism, you‘ve met one person with autism.“ – Dr. Stephen Shore
Der Autismus äußert sich bei Julian vor allem durch das Strukturbedürfnis und die Herausforderungen in der sozialen Interaktion – aber eben nur bei ihm, das betont er. Es gibt keine Abhark-Liste dafür was ein Mensch mit Autismus gut kann und was nicht. Denn, wie der Name schon sagt, ist das Spektrum der Autismus-Spektrums-Störungen riesig und jeder Betroffene hat ganz individuell unterschiedliche Stärken und Schwächen.
Tipps zum Umgang mit Autisten
Früher oder später wird jeder einmal mit Autisten in Kontakt kommen, sei es im beruflichen oder im privaten Kontext. Da Julian weiß, dass in seinem Publikum an diesem Abend auch viele angehende Lehrer, Ärzte und Psychologen sitzen, gibt er Tipps zum Umgang mit autistischen Menschen. Grundlegend sei, dass man Normalität schafft und Strukturen gibt, an denen sich die Person entlanghangeln kann. Wichtig sei auch, dass man das eigene emotionale Erleben äußert, erklärt und sich an Absprachen hält. Außerdem helfe es den Betroffenen, wenn bei sozialen Ritualen, wie Umarmungen oder Händeschütteln, abgesprochen wird wie viel Nähe in Ordnung ist.
„Wir müssen von diesem stereotypenbesetzten Bild über Autismus wegkommen. Das ist das große Ziel!“
Wenn Julian heute das Angebot bekommen würde, nicht mehr autistisch zu sein, würde er sich trotzdem für Autismus entscheiden, sagt er. Der, der er heute ist, baue auf seinem autistischen Ich auf und alles was er erreicht hat, habe sich daraus entwickelt. Sein persönliches Ziel ist es, die Schwächen seines Autismus nahezu vollständig zu kompensieren und sich laufend, aber in seinem Tempo, immer weiterzuentwickeln. Mit seinen Vorträgen will er weiter Menschen für das Thema sensibilisieren und Stereotypen aus der Welt schaffen. In den eineinhalb Stunden Vortrag an diesem Abend hat Julian das auf jeden Fall geschafft und konnte ohne große Mühe mit seiner guten Rhetorik und seinem Humor den ganzen Hörsaal für sich gewinnen.
Weitere Veranstaltungen der Fachschaft Psychologie findet ihr auf deren Facebook-Seite.
Fotos: Friederike Streib