Dass sie mal Tübinger waren, hört man ihnen an, auch wenn die Interviewpartner der Filmemacher von der Geschichtswerkstatt Tübingen e.V. heute im Ausland leben. Am Montagabend wurde im Deutsch-amerikanischen Institut Tübingen (d.a.i.) der Film „Wege der Tübinger Juden: Eine Spurensuche“ gezeigt. Etwa 100 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde Tübingen, bevor sie durch das nationalsozialistische Regime ausgelöscht wurde. Vielen gelang die Flucht ins Ausland. Diejenigen, die bis zum Schluss nicht an die Grausamkeit der Nazis und ihrer eigenen Mitbürger zu glauben vermochten, wurden ermordet. Der Film ist nicht nur Zeugnis eines unrühmlichen Kapitels der Tübinger Geschichte, sondern auch das Ergebnis eines langsamen und schmerzhaften Wiederannäherungsprozesses.
Kindheit im zunehmend antisemitischen Tübingen
Die Berichte der Zeitzeug*innen entwerfen ein Bild von Kindheit zwischen fröhlicher Naivität und dem viel zu frühen Herausgestoßenwerden daraus. Diskriminierungserfahrungen waren Alltag, obwohl ein paar schöne Erinnerungen geblieben sind. Therese Stern-Lawrence erzählt von dem Eis, dass sie auf dem Weg von der Schule über die Wilhelmstraße nach Hause spendiert bekam. Über den Kantoren Wochenmark, der so schön gesungen habe in der Synagoge. Doris Doctor berichtet von sonntäglichen Spaziergängen nach Schwärzloch mit der Familie. Ins Freibad, das für Juden verboten war, sei sie trotzdem gegangen, von ihren Mitschülerinnen ermutigt. Keiner habe etwas gemerkt.
Spuren jüdischen Lebens
Orte in Tübingen, an denen man im Alltag oftmals achtlos vorbeigeht, bergen sowohl positive, als auch negative Erinnerungen für die Zeitzeug*innen. Bereits in der Weimarer Republik gab es antisemitische Übergriffe, z.B. vor dem Gasthaus Ochsen – einem belebten Ort des Tübingens der 1920er Jahre, wo heute das Kaufhaus Zinser steht. Viele dieser Übergriffe wurden von Studenten verübt. Deren geistiges Umfeld, die Universität Tübingen, war damals antisemitisch gesinnt. 1934 wurde hier der erste Lehrstuhl für Rassenkunde eingerichtet. An die Synagoge, von der Therese Stern-Lawrence erzählt, erinnert heute nur noch eine Gedenktafel. Die Synagoge wurde 1938 von den Nationalsozialisten niedergebrannt. Einer der Zeitzeugen erinnert sich im Film: „Von einer Entrüstung der christlichen Mitbürger, auch nicht ihrer geistlichen, habe ich nichts gehört.“ Viele der damaligen Tübinger Juden berichten von Diskriminierungen, die sie in der Schule, sowohl von Lehrern als auch Mitschülern, erfahren haben. Doris Doctor erlebte, wie ihre guten Schulnoten zu Weihnachten, anders als die ihrer Mitschüler, nicht ausgezeichnet wurden, bloß weil sie Jüdin war. Ein anderer Zeitzeuge berichtet, wie er von seinen Mitschülern am Uhlandgymnasium auf einem Sandhaufen an ein Brett gefesselt wurde: „So habt ihr Jesus umgebracht.“
Fluchtwege und Sackgassen
Mit der Arisierung 1933 wurde das feindliche Klima in Tübingen immer unerträglicher. Kunden wurden von SA-Leuten am Einkauf in jüdischen Geschäften gehindert. Die Rassentrennung verwehrte Juden und Jüdinnen den Zugang zu Geschäften und Restaurants. Das Café Pomona, das direkt an die Neckarbrücke angrenzte, warb damit, judenfrei zu sein. In großer Bedrängnis und aus Furcht vor Deportation wagten viele die Flucht, vor allem ins Ausland. Mit dem Zug nach Italien und dann per Schiff nach Palästina, per Dampfer über den Atlantik in die USA.
Josef Wochenmark, der Kantor der jüdischen Gemeinde von 1925 bis 1934, beging im März 1943 Selbstmord. Er und seine Frau, deren Versuch gescheitert war, hatten einen Deportationsbescheid erhalten. Ihr Sohn Arnold Marque, dem die Flucht in die USA gelungen war, erzählt im Film, wie seine Mutter ihm am Telefon den Selbstmordversuch verheimlichte. Der Vater sei an einer Lungenerkrankung gestorben. Die letzten Worte, die sie ihm mit auf den Weg gibt: „Verliere nicht den Gottesglauben.“ Den von den Nationalsozialisten ermordeten Tübingern widmete Viktor Marx ein Denkmal, dass heute auf dem jüdischen Friedhof in Wankheim steht. Zu den Opfern gehörte unter anderem seine achtjährige Tochter Ruth, nach der eine Tübinger Straße benannt wurde.
Neue Heimat – zwischen Erleichterung und Ernüchterung
Auch die Schwierigkeiten der Tübinger Juden in ihren neuen Heimatländern kommen in den Interviews zur Sprache. Völlig mittellos erreichten sie Amerika oder Palästina. Von dem, was sie zurücklassen mussten, haben damals auch Tübinger profitiert. Trotzdem war es eine Erleichterung, sich endlich in Sicherheit zu wissen: „In New York haben wir dann die Statue of Liberty gesehen und dann wussten wir, dass alles gut wird.“ Nicht jeder hatte das Glück, es in die Vereinigten Staaten oder nach Palästina zu schaffen. Die USA verlangten ein sogenanntes Affidavid, eine Bürgschaftserklärung, die es Verfolgten ermöglichte, bei Verwandten und Freunden unterzukommen. Wer sich in Israel ansiedeln wollte, von dem forderte die britische Mandatsmacht ein capitalist certificate, d.h. sie mussten eine bestimmte Summe Kapital mitführen.
Schmerzvolle Wiederannäherung
Der Film ist Lilli Zapf gewidmet, die seit den 1960er Jahren die Geschichte der Tübinger Juden aufgearbeitet hat. Auf ihre Anregung hin lud die Stadt die ehemaligen Tübinger Juden ein. Deren Reaktionen waren zu Beginn gemischt. Manche hatten sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. 1981 konnte schließlich das erste Treffen in Tübingen stattfinden, auf das weitere folgten. So ist der Film auch das Resultat eines langsamen Wiederannäherungsprozesses, bei dem „aus Anklägern Zeitzeugen wurden“.
Der Film kann in der UB und in der Stadtbibliothek ausgeliehen werden. Außerdem ist er hier käuflich zu erwerben.
Fotos:
- Titelbild und Filmplakat: Geschichtswerkstatt Tübingen e.V.
- Orte jüdischer Geschichte in Tübingen: Ineke Schlüter