Vergangenen Donnerstag lockte die osiandersche Herbstlesung mit Deutschlands bekanntestem Gesicht der Frauenbewegung viele gespannte Gäste ins Kino Museum. Alice Schwarzer präsentierte mit viel Authentizität ihr neu erschienenes Buch „Meine algerische Familie“. Die „Emma“-Gründerin porträtiert in ihrer essayistischen Erzählung das heutige Algerien durch die Stimmenvielfalt ihrer algerischen Freunde. Schwarzer teilt auf bewegende Weise ihre Eindrücke von traumatischer Lethargie bis hin zu nordafrikanischer Gastfreundschaft.
Feminismus Fehlanzeige
Die jüngere Generation der liberalen Großfamilie ist geprägt vom Wunsch nach Emanzipation, sowie einer schrittweisen Annäherung in die richtige Richtung. Dennoch zeigt sich der Patriarchalismus als tiefverankerte Wertvorstellung. Die 24-jährige Sarah definiert ihre Weiblichkeit eigensinnig in Minirock und High Heels und ist über Social Media (zumindest gedanklich) der westlichen Freiheit nahe. Dabei stößt sie bei der mehrheitlich verschleierten Bevölkerung auf Unverständnis.
Die traditionelle Doppelmoral plädiert: Männer ja, Frauen nein.
Eine eigene Wohnung vor der Eheschließung wäre für Sarah undenkbar. Schwarzer erlebte die absurd tiefe Diskrepanz zwischen den Geschlechtern hautnah. Bei der Hochzeit stehen die Tische der Männer rechts, die der Frauen links. Beim Familienfest zu Hause hat die kochende Hausfrau keinen gedeckten Tischplatz. Sie erlaubt sich höchstens beim Nachtisch einen Stuhl hinzuzuziehen. Schwarzer betont stets, dass sie sich bei ihrem Aufenthalt in der Hauptstadt Algier nicht als belehrende Feministin, sondern als aufklärende Reporterin definiert hat. In vielen Buchpassagen wird das emotional-freundschaftliche Verhältnis zu allen Familienmitgliedern und der gegenseitige Respekt deutlich.
Gefangen zwischen Kolonialismus und Islamismus
Schwarzer beschreibt das algerische Volk als doppelt traumatisiert. Algerien wurde seit des 19. Jahrhunderts von der französischen Kolonialherrschaft besetzt. Knapp acht Jahre lang litt das Volk bis zur Befreiung 1962 unter einem zerstörenden Unabhängigkeitskrieg. Kurz darauf folgten die „schwarzen Jahre“, in denen Radikalislamisten als stärkste Partei die politische Macht übernahmen. Schwarzers langjährige Freundin Djamila trug während ihrer universitären Laufbahn in den 90-Jahren nie ein Kopftuch, was damals mit Beschimpfungen und Drohungen bestraft wurde. In diesem Zusammenhang lenkte Schwarzer den Fokus auf den Missbrauch des Islams als politisches Machtmittel. Laut Schwarzer sei es wichtig Islam als private Glaubensangelegenheit deutlich vom politisch instrumentalisierten Islamismus abzugrenzen. Diese politische Radikalisierung manifestiere unter Anderem die weibliche Unmündigkeit, aus dessen Zwängen sich das liberale Algerien auch heute noch nicht vollständig lösen konnte.
Auf dem Weg der Genesung
Die belastende Vergangenheit Algeriens hat in der Bevölkerung seelische sowie körperliche Wunden hinterlassen. So erzählt Karim in Schwarzers Buch von einer brutalen Plünderung durch Islamisten während der schwarzen Jahre, wovon er Schusswunden und ein psychisches Trauma erlitt. Kinder, deren Kindheit von pseudoreligiösen Fanatikern, wie sie Schwarzer bezeichnet, sehen sich nun als liberale Algerier in der Verantwortung das geopolitische Potential ihres Landes auszubauen. Aktuell hat das Land unter anderem mit wirtschaftlicher Instabilität, bedingt durch hohe Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, bestimmt die politische Integrität die Genesung des Volkes. Algerien erhofft sich bei den Wahlen im nächsten Jahr eine stabile liberale Basis zu etablieren. Schwarzer weist außerdem darauf hin, dass der Westen in der Pflicht steht das Land bei der Wahrung der Menschenrechte zu unterstützen anstatt wegzusehen.
Fotos: Gizem Güler.
Beitragsbild ‚Meine algerische Familie‘: Bettina Flitner (Copyright).