Martin Walser, 91 Jahre alt und Deutschlands berühmtester zeitgenössischer Schriftsteller, nahm am vergangenen Donnerstag an der Tagung der „Ethik der Lust“ teil. In seiner Lesung diskutierte der Schrifsteller, ob Ethik ein Vorwand sei, die Sexualität anständiger erscheinen zu lassen als sie ist – und stellte damit das eigentliche Tagungsthema infrage. Die folgende Diskussion zwischen Walser und seinem Biographen, Jörg Magenau, weckte das Interesse des Publikums im vollen Hörsaal des Kupferbaus.
Die Veranstaltung wurde vom Forum Scientiarum und dem Philosophischen Seminar veranstaltet und fand vom 15. bis 17. November 2018 statt. Es gab verschiedene Vorträge zu philosophischen Fragestellungen, der ‚Lust‘ und ihrer Ethik. Im Zuge dessen wurde auch die Lesung mit Martin Walser am Donnerstagabend organisiert. Während der Begrüßung zur Veranstaltung spielte man schmunzelnd darauf an, dass Walser sich nicht über die Einladung gewundert hätte, da er sich in den letzten 60 Jahren mit diesem Thema auseinandergesetzt habe. Als Walser das Wort ergriff, stellte er jedoch sogleich fest: „Also für Ethik komme ich nicht in Frage“, woraufhin ein Lachen den ganzen Saal erfüllte. Das Publikum war daraufhin sehr daran interessiert, den Grund für Walsers Missbilligung des Tagungsthemas zu finden. So las er also zunächst vier Texte aus seinen Tagebüchern vor und gab Einblicke in „Spätdienst“ (20.11 Neuerscheinung). Hier schildert er mal lyrisch – mal überraschend direkt erotische Erlebnisse und Sex, ganz ohne dabei peinlich berührt zu sein.
Eine Lesung über die schönste Sache der Welt
Der erste Auszug aus seinem Tagebuch von 1998 schilderte eine Beziehung zwischen einem verheirateten Mann, der nicht in seiner Ehe aufgeht, sondern die Nähe zu einer anderen anziehenden und intelligenten Frau sucht. Er nutzt seine Macht aus, da sie mit ihm schlafen will, doch er entzieht sich ihr und bringt sie dadurch zur Verzweiflung. Um sie zu demütigen und unterwerfen, wird so ein Spiel inszeniert (zumindest solange sie nicht auf die Idee kommt er könne impotent sein): „Es ist der Sieg, den man genießen kann für ihre frühere Zurückweisung“.
Walser distanziert sich nach dem Lesen der Textstelle von seinem jüngeren Ich: „Ich kann nur hoffen ich sei nicht immer so gewesen. So spricht man nicht über Frauen.“
In der nächsten Textstelle aus seinem neuesten Buch „Spätdienst“ stellt er dies richtig. Die Stelle handelt von umgekehrten Geschlechterverhältnissen: Hier spricht ein Mann davon, wie es ist von einer Frau manipuliert zu werden: „Wie leicht es doch ist, einen Mann zu vergewaltigen.“ Weitaus knisternder geht es in den nächsten beiden Texten zu: Im Tagebuch von 1979 überlegt ein Mann, der in einem Flugzeug neben einer unbekannten schönen Frau sitzt, ihr ins Dekolleté zu lugen. Doch er hat Angst, dass man ihm seine Erregung anmerken würde, wenn er mit ihr spricht. Und auch in ihren Gedanken entsteht eine erotisch aufgeladene Fantasie: Sie stellt sich vor, das Flugzeug würde abstürzen und er würde sie küssen und „im Augenblick des Zerschmettertwerdens seine ganze Zunge bis zur Wurzel in ihren Mund“ bringen und sie wäre noch daran erstickt bevor das Flugzeug abstürzen könnte. Das Tagebuch von 1969 spiegelt durch die Enttabuisierung sexueller Themen ausgezeichnet die Stimmung der 68er wider:
Walser las Passagen vor, die ungefähr so klangen: „Dann wirst du steif“, „spürst du wie nass ich bin“ und „mein Gott fick mich, ich bin so geil, komm – fick mich doch, FICK MICH!“
Ethik der Lust? Wofür übertriebene Formulierungen für schlichte Sachverhalte?
In dem anschließenden Gespräch bekundet Walser, dass der Titel der Tagung für ihn wie ein Paradox klinge. Lust habe doch nichts mit Ethik zu tun. Auch er wolle zwar – mittlerweile – anständig sein, aber Ethik sei eine Theorie, die mit der Literatur nichts zu tun habe. Magenau versuchte daraufhin mehrmals, Walser mit dem Thema zu versöhnen, doch der winkt ab und schüttelt seinen Kopf. Man müsse das Anständigsein nicht unnötig kompliziert machen mit dem Denksystem ‚Ethik‘. Für Walser geht es nicht um solche Fragestellungen. Er bezeichnet die Lust eines grabschenden Lüstlings lieber als „Schweinerei“ oder „Unbeherrschtheit“ und unterscheidet lediglich zwischen anständig und unanständig. „Eine exzessive Redeweise über Sexuelles – die Ethik kann dazu gar nicht kommen“, stellt er fest. Ethik und das Denksystem einer Theorie seien ihm fremd, er möchte durch das Schreiben die Welt einfach schöner machen, als sie ist.
Schreiben ist Spaß und keine Lust
Das Schreiben bedeute für ihn zudem Spaß und keine Lust – auch von diesem Begriff distanziert er sich. Lust sei ihm zu theoretisch aufgeladen, es ginge einfach um den Spaß an sich. Durch diese Aussagen manifestierte sich Walsers Ablehnung von Theorie auf ganzer Linie. Der Versuch ihm das Tagungsthema schmackhafter zu machen, ihm die Ethik der Lust näher zu bringen, scheiterte kläglich. Man kann die Literatur auch lesen ohne ein solches Erklärungsmuster mit ‚Vokabular‘, wie er es ausdrückt, heraufzubeschwören. Walser unterscheidet ganz allgemein zwischen Sprache und Vokabular. Die Sprache ist etwas authentisches aus dem Leben und äußere sich direkt und ursprünglich in der Literatur ohne dabei Theorie zu treiben. Vokabular hingegen ist universitär, ist lehrbar und definierbar. Also auch vorgeben und begrenzt in seiner Ausdruckskraft. Den Philosophen Nietzsche sieht Walser auch als Dichter, er bewundere dessen direkte Schriftstellerei und, dass auch er kein Vokabular verwende. So gibt er zumindest an einer Stelle zu, sich der Theorie schuldig gemacht zu haben, da auch er sich in früheren Werken mit Nietzsche auseinandergesetzt hat.
Denkt weniger und lebt einfach!
Woher also die Ethik bei der Lust herrührt, also der Anstand im Menschen und unser Handeln nach moralischen Fragen, blieb diesen Abend unbeantwortet. Erotik ist, laut Walser, vereinbar mit unserem Leben.
Mein persönliches Fazit für diesen kontroversen und witzvollen Abend lautet: Walser brachte frischen Wind in unser universitäres Theoriegebäude. Denken die Menschen zu viel und fühlen zu wenig beim Lesen von Literatur? Den Zugang, den ihr euch sucht zu Büchern, der sei euch überlassen. Doch an diesem Abend hat mich Martin Walser zum Nachdenken gebracht: Das Konstruieren von Theoriemonstern kann den Blick auf das Wesentliche und Ursprüngliche auch verstellen, sodass man gar nicht merkt worum es eigentlich wirklich geht.
Fotos: Marko Knab