Nach dem schweren Erdbeben im Jahr 2010 fällt die Reichenschicht in Haiti auseinander. Mit seinem gesellschaftskritischen Drama „Meurtre à Pacot – Mord in Pacot” stellt Regisseur Raoul Peck seine Zuschauer vor die Frage, ob das Unglück nicht schon lange vor der Naturkatastrophe begonnen hat.
„Wofür lebst du, nun, wo du alles verloren hast?“ – Nach dem heftigen Erdbeben in Haiti ist ein namenloses Ehepaar auf der Suche nach einer Antwort zu dieser Frage. Die Auflösung scheint begraben – unter den Trümmern ihres Hauses, unter ihren zerstörten Autos, sogar unter ihrem verstorbenen Sohn. Die gesellschaftlichen Differenzen zwischen dem ehemals reichen Paar und den restlichen Haitianern sind verschwunden. Das Erdbeben hat den beiden alles genommen, außer der Hoffnung, dass sie irgendwann zu ihrem alten Leben zurückfinden werden. Aus diesem Grund entscheiden sie sich, direkt vor ihrem zerfallenen Haus zu leben und dieses Stück für Stück wieder aufzubauen.
Um das Geld für die Reparaturen so schnell wie möglich zusammenzubekommen, vermietet der Mann das Haus an einen reichen, weißen Geschäftsmann namens Alex (Thibault Vinçon), der mit seiner Hilfsorganisation verarmte Haitianer in der Umgebung unterstützen möchte. Mit dabei ist Andrémise (Lovely Kermonde Fifi), eine junge Haitianerin, die Jennifer genannt werden möchte, und mit Alex nach Europa will. Das Ehepaar zeigt sich den beiden gegenüber zunächst misstrauisch, ist es doch besorgt, dass sein dunkles Geheimnis gelüftet werden könnte. Außerdem haben sich der Mann und die Frau völlig voneinander entfremdet, was das Wiederherstellen ihrer Beziehung unvorstellbar macht. Trost finden beide bei Andrémise, die dem Geheimnis des Ehepaares tatsächlich mehr und mehr auf die Spur kommt – ohne dabei zu merken, dass sie sich auf ein lebensgefährliches Spiel eingelassen hat.
Der Anfang vom Ende
Raoul Peck stellt eindrucksvoll dar, wie sich ein Ehepaar gegen sein Schicksal stellt und sich – nachdem es alles verloren hat – weigert, sich als Teil der sozial schwachen Schicht Haitis anzusehen. Wenngleich die Beiden mehrmals darauf hingewiesen werden, dass es nun keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und den ärmeren Haitianern gibt, halten sie an ihrem alten Leben so gut wie möglich fest.
Der Rolle des Westens nach Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Haiti steht Regisseur Peck skeptisch und vorsichtig gegenüber: Zwar ist Alex in Haiti, um „zu helfen“, jedoch fehlt ihm der kulturelle Bezug zum Land, um den Haitianern wirklich das zu geben, was ihnen fehlt. Außerdem macht Peck klar, dass eine Katastrophe wie diese keine Chancengleichheit hervorbringt. Indem sich das Ehepaar weigert, seinen früheren Status aufzugeben und gleichzeitig mit allen Mitteln andere davon abhält, diesen zu erlangen, erkennt der Zuschauer das Bedrohungsgefühl der Reichen, das zu einer Gleichgültigkeit gegenüber armen Menschen führt.
„Meurtre à Pacot“ ist ein packendes Drama, das mit seiner Erzählweise den Zuschauer vor einen großen gesellschaftskritischen Trümmerhaufen stellt, der ihn zunächst verwundert und anschließend nicht mehr loslässt.
MEURTRE À PACOT, Frankreich / Haiti / Norwegen, 2014 – Regie: Raoul Peck. Buch: Pascal Bosnitzer, Raoul Peck, Lyonell Trouillot. Kamera: Eric Guichard. Mit: Ayo, Alex Pescas, Thibault Vinçon, Lovely Kermonde Fifi, Albert Moléon. 130 Min.
Text: Nina Vougogia (23) studiert Amerikanistik im siebten Semester und fühlt sich zwischen Anime- und Arthausfilmen, Handheld-Kameras und abstrakten Traumsequenzen à la David Lynch am wohlsten.
Diese Filmkritik entstand im Rahmen des FestivalTV der Französischen Filmtage im Filmkritikworkshop von Hanne Detel, Institut für Medienwissenschaft, Uni Tübingen.
Fotos: Raoul Peck