Ermittlungspannen, ominöse Verstrickungen von V-Männern und geschredderte Akten prägen den NSU-Prozess rund um die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Mehmet Daimagüler, Vertreter der Nebenklage, und Prof. Dr. Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Eberhard-Karls-Universität, waren am Donnerstagabend im Kupferbau, um über das Thema zu sprechen.
Von 2000 bis 2007 ereignete sich mitten in Deutschland eine beispiellose Mordserie. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), ein rechtsextremes Terrortrio bestehend aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, tötete in dieser Zeit neun Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund, sowie die Polizistin Michelle Kiesewetter. Am 4. November 2011 wurden Bönhardt und Mundlos tot in ihrem abgebrannten Wohnmobil aufgefunden und der NSU flog auf.
Vom Oberlandesgericht direkt weiter zur Podiumsdiskussion
Ungefähr fünfeinhalb Jahre später läuft der Prozess zur Aufklärung der Morde noch immer, und einer ist mittendrin: Mehmet Daimagüler. Er ist einer von ungefähr 50 Anwälten, die die Nebenklage vertreten, und heute für die Podiumsdiskussion extra angereist. Wenige Stunden vorher wohnte er noch dem Prozess im Oberlandesgericht München bei.
Bevor der Gast aus München zu Wort kommt, stellt der Direktor des Instituts für Kriminologie, Jörg Kinzig, kurz einige Statistiken zu rechtsextremer Gewalt vor, und die sind alarmierend: 2016 gab es in Deutschland im Schnitt jeden zweiten Tag eine Gewalttat gegen Asylunterkünfte.
Institutioneller Rassismus
Dann tritt Daimagüler ans Rednerpult, und er hat viel zu erzählen. Von Anfang an lauscht das Publikum gebannt, wie der rhetorisch gewandte Anwalt über den Prozess und die Ermittlungen spricht. So beklagt er zum Beispiel, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden bei der Mordserie nicht schon viel früher auf das Tatmotiv Rechtsextremismus kamen und stattdessen oftmals die Opfer selbst verdächtigten, in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen zu sein. Vorgänge wie diese führt er auf institutionellen Rassismus zurück, der für ihn auch im Prozess zu wenig thematisiert wird: ,,Wenn wir über institutionellen Rassismus reden, grätscht die Bundesanwaltschaft dazwischen“, meint der Jurist.
Daimagüler wartet mit einigen erschreckenden Beispielen von teils ungeheuerlich anmutenden Fehlern, Pannen und Ungereimtheiten in den Ermittlungen rund um den NSU auf.
So erzählt er von Andreas Temme, einem verdeckten Ermittler des Verfassungsschutzes. Dieser war vor Ort anwesend, als Halit Yozgat in seinem Internetcafé vom NSU erschossen wurde. Temme beharrt darauf, von dem Mord nichts mitbekommen zu haben. V-Männer spielen in den Verstrickungen rund um den NSU häufig eine Rolle, wie Daimagüler deutlich macht. Der Thüringer Heimatschutz, in dem Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Mitglied waren, bevor sie den NSU gründeten, bestand zu 25 Prozent aus Verfassungsschützern. ,,Der Thüringer Heimatschutz wäre nichts gewesen ohne die schützende Hand des Staats“, glaubt der Strafverteidiger.
Appell für eine wehrhaftere Demokratie
Während der ganzen Zeit, in der Daimagüler redet, herrscht in den Reihen des Saals eine drückende, aber faszinierte Stimmung. Das ehemalige Bundesvorstandsmitglied der FDP weiß es, sein Publikum um den Finger zu wickeln, man kann sich ihn gut in einem Gerichtssaal vorstellen. Aber vor allem merkt man an diesem Abend eines: Ihm geht es hierbei um eine Herzensangelegenheit. Und deshalb beendet er seinen Vortrag auch mit einem Plädoyer für mehr Zivilcourage und bürgerliches Engagement: ,,Weder Demokratie, Rechtsstaat noch Freiheit sind Naturgesetze. Die gehen vor die Hunde, wenn sich keine Menschen dafür einsetzen“, appelliert er und beschließt den Abend mit den Worten ,,Natürlich hat unsere Demokratie eine Hoffnung. Wir müssen nicht nur daran glauben, sondern auch etwas tun!“
Fotos: Leo Schnirring