Das 10. Bücherfest lockt namhafte Autoren in die schönsten Locations in Tübingen. Benedict Wells laß am Samstag bei strahlendem Sonnenschein aus seinem neuen Buch vor und zog das Publikum mit jeder Menge Charme in seinen Bann.
Es gibt nicht viele Gelegenheiten, zu denen man den Innenhof des Wilhelmsstifts betreten kann, wenn man nicht gerade dort wohnt. Aber das Bücherfest ist eine davon. Das Publikum in dem beinahe burgähnlichen Innenhof hat sich so gut wie möglich in den Schatten gesetzt, um der heißen Sonne bei den herrschenden dreißig Grad zumindest ein bisschen zu entkommen. Anlass für das gemeinsame Schwitzen ist die Lesung von Benedict Wells, einem jungen Autor mit angenehmer Stimme und leicht rollendem „r“. Er liest aus seinem neuen Buch vor, „Vom Ende der Einsamkeit“.
„Ich wollte den Weg bis zum Ende gehen und das Buch nicht überhastet nach 5 Jahren abschließen. Da war es eh schon egal.“
Der 33-Jährige wirkt sehr bescheiden – macht am Anfang erst einmal ein Foto von der Menge, weil er kaum glauben kann, wie viele Menschen für ihn gekommen sind. Dass er erkältet ist, merkt man nicht. Nur weil er von einer „Aspirin Complex-Überdosis“ erzählt, um überhaupt auftreten zu können. Sein eigenes Buch zum Vorlesen hat er vergessen und leiht es sich von einer Zuschauerin aus der ersten Reihe. Möglicherweise einstudiert oder nicht, aber damit lockert er die Atmosphäre merklich auf und sorgt für einige Lacher.
Gegensätzlicher zu diesem sonnigen Tag könnte die nachdenkliche und berührende Story seines Buches jedoch kaum sein. Die Handlung zieht sich über 34 Jahre und behandelt das Leben von drei Geschwistern und wie es sich verändert, nachdem sie in jungem Alter ihre Eltern verlieren. Wells hat selbst sieben Jahre gebraucht, um das Buch zu schreiben, aber wie viel Liebe zum Detail darin steckt und wie viele Gedanken er sich um jeden Satz gemacht hat, merkt man dafür auch. Er liest drei verschiedene Stellen des Buches vor und bietet dazwischen immer wieder Raum für Fragen aus dem Publikum.
Er erzählt von seinen Schwierigkeiten beim Schreibprozess, da das Buch episodenartig aus dem Leben der Geschwister erzählt und zwischen den einzelnen Episoden jeweils mehrere Jahre liegen. Von ursprünglich 800 Seiten hat er kräftig gekürzt: „Das braucht kein Mensch…das kann komplett raus. Dass es nach der Schule nicht gut läuft, kann man sich ja denken!“. Zwischendurch verirrt sich eine Fliege zu ihm und setzt sich auf das Buch der Zuschauerin. Er erwischt die Fliege und die Zuschauerin bekommt wohl ein neues Buch – „es gibt Blutspuren, tut mir leid… Das ist ein kleines Massaker hier“. Doch neben unfreiwilliger Komik erfährt man auch viel Persönliches über den Autor.
„Das Buch ist sehr persönlich. Aber nicht schwarz auf weiß, sondern zwischen den Zeilen.“
Auf die Frage, wie viel von seiner Persönlichkeit in Wells’ Buch steckt, wird er beinahe philosophisch. Bewusst seien viele Details sehr persönlich, viel aber auch überhaupt nicht. Zum Beispiel kommen die drei Protagonisten aus „Vom Ende der Einsamkeit“ nach dem Tod ihrer Eltern auf ein Internat, auch Benedict Wells war von seinem sechsten Lebensjahr an im Internat. Außerdem hätte jeder Mensch zwei Seiten. Benedict Wells’ öffentliche Seite sei zu großen Teilen von seinen ersten drei Büchern abgedeckt worden. Und es gibt die private Persönlichkeit abends, alleine im Hotelzimmer, wenn nach der Tour auf einmal niemand mehr da ist. Deshalb wollte er etwas Persönliches schreiben, etwas, das dieser Person im Hotelzimmer gerecht wird.
Außerdem gäbe es in seinen Büchern eine „Türsteher-Geschmacksgrenze“: Vieles von dem, was Benedict Wells selbst gerne liest und hört, ist in seinen Büchern versteckt. Wenn er seine Charaktere Bücher lesen lässt, liest er sie auch selbst. Zudem erstellt er zu jedem seiner Bücher Playlisten mit 200-300 Songs, von denen hinterher eine kleine Auswahl veröffentlicht wird.
„Dass ihr das hier aushaltet!“
Nach 1,5 Stunden ist es selbst im Schatten heiß. Aber die wenigen Menschen, die keinen Schattenplatz bekommen haben, harren aus und hängen an seinen Lippen. Dennoch holt er eine Zuschauerin zu sich auf die schattige Lesebühne. Diese darf oder muss dann auch den letzten Satz vorlesen, als seine Erkältung ihn doch einholt und er beim allerletzten Satz abbrechen muss. Er bekommt trotzdem tosenden Applaus, und die Zuschauerin wohl auch.
Fotos: Mirjam Bittner.