Geschichten erzählen – das ist ein menschliches Bedürfnis wie Essen oder Schlafen, findet Håkan Nesser. Der Schwede schließt die diesjährige Tübinger Poetik-Dozentur ab. In seinem Vortrag am Montagabend sprach er über den Erfolg der „Schwedenkrimis“ und die Bedeutung von Literatur.
Auf den Plakaten für die Poetik-Dozentur, die die Wände des Audimax in der Neuen Aula zieren, sind die diesjährigen Autoren aufgelistet: Friedrich Ani, Arne Dahl, Håkan Nesser und Wolfgang Schorlau. Blutrot treten die Autorennamen aus dem Hintergrund eines düsteren, nebligen Waldes hervor. Die Assoziation mit Schwedenkrimis drängt sich auf: Depressive Charaktere und beispiellose Brutalität, gewürzt mit Gesellschaftskritik. Dieser spannenden Mischung haben Schwedenkrimis wohl ihren internationalen Erfolg zu verdanken. „Aber von 150 Krimis, die jährlich in Schweden erscheinen, hätte man nur 50 veröffentlichen müssen“, meint Håkan Nesser.
Er scheint kein vorbehaltloser Anhänger des klassischen Schwedenkrimis zu sein – bei ihm geht es auch anders, jenseits von abgenutzten Krimi-Klischees. Deshalb sieht er sich nicht nur als Krimi-Autor. „Ich sage von mir selbst einfach, ich bin ein guter Autor“, erzählt der humorvolle Schwede. Warum Krimis, speziell sogenannte „Nordic Noirs“ oder Skandinavienkrimis, so beliebt seien, dafür gebe es je nach Land unterschiedliche Gründe. Die Briten, so Nesser, lesen gerne die Gesellschaftskritik. Die Amerikaner mögen das langsame Tempo und die depressiven Charaktere. Und die Deutschen? Die lieben alle schwedischen Autoren, weil sie Astrid Lindgren gelesen haben, witzelt er.
Was macht eine gute Geschichte aus?
Aber was spricht jeden an, egal aus welchem Land er kommt? Was darf in einer guten Geschichte nicht fehlen? Identifikation – das ist laut Nesser der Dreh- und Angelpunkt. Der Leser muss sich in die Figuren hineinversetzen können. Außerdem muss er neugierig auf die zukünftige Handlung werden. Ein Krimi biete oft umso mehr Lesevergnügen, da es für den Leser sowohl zur Zukunft als auch zur Vergangenheit (z.B. zum Tathergang eines Mordes) vieles zu erfahren gebe. Auch das Thema „Tod“ mache eine Geschichte interessant: „In the mirror of death, we see our lives clearly”, konstatiert Nesser. Im Krimi steckt also das Potenzial, hochrangige Probleme zu behandeln und zu reflektieren – seien es existentielle, politische, psychologische oder philosophische Fragen.
Nach Trivialliteratur klingt das wirklich nicht. Diese 21. Poetik-Dozentur möchte den literarischen Wert von Krimis hervorheben und trägt daher den Titel „Poetics of Crime“. Die alljährlich stattfindende Veranstaltung wird von der Literatur-Professorin Dorothee Kimmich organisiert und lockte schon Autoren wie Günter Grass, Juli Zeh und Daniel Kehlmann nach Tübingen. Es soll um das konkrete Werk einzelner Autoren gehen, aber auch um Literatur überhaupt.
Nesser spricht kaum über sein eigenes Werk – dies will er in seiner zweiten Vorlesung am Dienstagabend tun. Stattdessen geht es um den Krimi als Genre, aber noch mehr um den Wert von Geschichten und Literatur. Der angeblichen „Krise des Buches“ hält Nesser ein rosiges Zukunftsbild und ein optimistisches Plädoyer für das Lesen entgegen. An rührenden Fällen zeigt er die Bedeutung von Büchern für die Menschen auf. So erzählt er von einer alten Frau, die erst mit über 80 Jahren das Lesen für sich entdeckte – und um all der verpassten Geschichten willen weinte. Oder davon, wie J.K. Rowling einem krebskranken Kind vor dem Erscheinen des letzten Bandes die Harry-Potter-Geschichte bis zum Ende erzählte. Das Kind erlebte den Druck des siebten Harry-Potter-Buches nicht mehr mit.
Literatur als Lebensmodell
Die Beispiele der alten Frau und des krebskranken Kindes zeigen für Nesser, dass Menschen ein Bedürfnis nach Erzählungen haben, wie nach Essen oder Schlafen. Daher glaubt er nicht an ein allmähliches Aussterben von Büchern. Sie stifteten Sinn und geben Tipps für die eigene Lebensführung. „Trefft eure Entscheidungen so, wie eine gute Buchfigur sie treffen würde“, rät der Autor den Zuhörern. Die Literatur ist für Håkan Nesser deshalb auch den anderen Künsten überlegen. Auf eine einsame Insel würde er Bücher mitnehmen: Thomas Mann, Franz Kafka und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“.
Das Lesen allein genügt Nesser aber nicht, schließlich schreibt er seit den 80er-Jahren selbst. Als Triebfeder sieht er dabei, dass alle Autoren ihre „eigene Realität“ schaffen möchten. Sein erster Roman „Koreografen“ wurde noch wenig beachtet, nun werden Nessers Bücher in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Vor allem seine Reihen um die Ermittler Van Veeteren und Barbarotti sind sehr beliebt. In seinem neusten Roman „Der Fall Kallmann“ allerdings werden die Ermittlungen von einem Lehrer durchgeführt. Professorin Dorothee Kimmich verrät, dass es im nächsten Roman wieder um Van Veeteren und Barbarotti gehen wird – sie sollen sogar gemeinsam ermitteln. Des Weiteren können Nesser-Fans sich im September 2018 über eine Filmtrilogie freuen. „Death of an Author“ ist der Titel des ersten Teils. „Death of a Book“ wird eine Nesser-Verfilmung aber wohl nie heißen. „Solange es den Menschen gibt, wird es Bücher geben“, ist der Autor sich sicher.
Weitere Termine:
Dienstag, 28. November, 20 Uhr: Zweite Vorlesung von Håkan Nesser im Audimax der Neuen Aula
Mittwoch, 29. November, 10.30 bis 11.30 Uhr: Signierstunde in der Buchhandlung Gastl, Am Lustnauer Tor 7
Fotos: Marko Knab