Das Tübinger Zimmertheater hat aktuell doppelten Anlass zum Feiern. Vergangenen Mittwochabend feierte das junge Ensemble mit ihren Gästen 60-jähriges Jubiläum im Tübinger Rathaus, wo zahlreiche Anekdoten zum Besten gegeben wurden. Anschließend wurde in geselliger Runde in den Theaterräumen in der Bursagasse gefeiert. Seit der diesjährigen Spielzeit darf sich das Publikum auf das junge Intendanten-Duo Ripberger freuen. Wir haben hinter die Kulissen des frisch eingeweihten „Instituts für theatrale Zukunftsforschung“ geschaut. Im Interview erfahrt ihr, was es mit dieser neuartigen Idee auf sich hat und wie die beiden frischen Wind in die Theaterkunst bringen wollen.
Kupferblau: Welchen Stellenwert hat Theater als klassische Kunst in der heutigen digitalisierten Gesellschaft?
Dieter: Viele Menschen haben vergessen, dass Theater eine Freizeitbeschäftigung ist, die sinnstiftend ist und die Spaß macht. Als Theatermacher sind wir fest davon überzeugt, dass es einen gewaltigen Stellenwert hat. Gerade in der digitalisierten Gesellschaft, wo sich die Leute nur noch über Bildschirme sehen und nicht nebeneinandersitzen und sich austauschen. Dazu gehört aber auch die Ehrlichkeit sich selbst in Frage zu stellen – wie veränderungsbereit ist man, indem man Theater neu macht, um damit Leute wiederzugewinnen.
Peer: In den letzten Jahrzenten ist das Theater zunehmend musealisiert worden. Die Idee von Klassikern auf der Bühne ist noch nicht alt. Natürlich gibt es auch viele Theater, die zeitgenössische Dramatik zeigen und progressive Kunst machen – die Grenzen werden immer fließender. Man muss schauen, in welchem Kontext bewegt man sich und sich fragen, welche Darstellungsformen die richtigen sind. Junge Leute, die mit YouTube und Facebook sozialisiert sind, haben eine ganz andere Wahrnehmungsweise für Medien und Kunst. Da müssen wir uns fragen, was unser Medium kann.
„Dass man von Theater auch mitgerissen werden kann, damit rechnen viele Leute nicht.“
Bei eurer wöchentlichen ITZ Sitzung wird Theater-Smalltalk mit Wein und Snacks kombiniert. Woher kam die Idee für dieses Format?
Peer: Wir wollen nicht, dass das Theater ein abgeschotteter Raum ist, wo man in seinem dunklen Kämmerchen sitzt, wir wollen im Dialog mit den Leuten sein. Darum geht es im Theater. Man erlebt etwas miteinander und sitzt nicht allein vor einem Bildschirm. Unsere Schauspieler wünschen sich den Kontakt zu den Zuschauern, um herauszufinden was mit ihnen passiert und wie sie zu den Themen stehen. Wenn wir auf zeitgenössische Themen setzten, dann müssen wir auch eine Form von Vermittlung leisten. Wir starten jeden Probenprozess mit einem Symposium wo wir Experten einladen, die mit den Künstlern und auch mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Und es gibt regelmäßig die Mittwochabende, wo man zusammenkommt und miteinander spricht.
Dieter: Es ist ein künstlerischer Impuls und das Zimmertheater ist einfach auch der ideale Ort dafür. Das ist kein didaktisches Format, sondern es kann für ganz viele Leute das Wohnzimmer sein, die sich mit den Themen identifizieren. Es ist das Gefühl, dass Theater die Türen aufmachen muss und die Welt und die Leute reinlassen muss. Deshalb war es uns wichtig eine Bar zu haben – man muss sich da wohlfühlen. Dann entsteht ein Gespräch ganz mühelos, wenn man auf dem Sofa sitzt und sagt was denkst du dazu. Das verändert auch das Denken und die Präsenz der Schauspieler auf der Bühne. Man kann einfach kostenlos vorbeikommen und es gibt Suppe vom Italiener gegenüber und Getränke. Es soll sowohl Teambildung für uns als auch ein Gewinn für die Zuschauer sein.
Werden die zeitgenössischen Themen und Formate von den Studenten angenommen? Wie erlebt ihr den Dialog?
Dieter: Es passiert definitiv viel durch die Irritation mit dem ITZ. Die Leute haben gemerkt es verändert sich etwas und viele schnuppern mal rein. Wir sind auch ein blutjunges Team zwischen 20 und 30. Dass wir diese Intendanz gekriegt haben, ist auch der Wahnsinn. Darum passt es vielleicht auch gerade hier so gut her.
Peer: Wir haben Veranstaltungen, da sind 80% der Leute unter 30 und das erlebt man im Theater nicht oft. Wir stellen uns eher die Frage, wie es uns gelingt ältere Menschen dafür zu gewinnen, was wir machen. Im Idealfall kommen die verschiedenen Generationen her. Junge Leute sind durchaus für Theater zu begeistern, wenn man ihre Themen bespricht oder Formen findet, an die sie mit ihren Sehgewohnheiten anknüpfen. Wir müssen jetzt schauen wie treu sind uns die jungen Leute und ob sie auch mehrmals kommen oder lieber zu Netflix zurückgehen.
Die Grundidee des ITZ sind utopische Konzepte. Inwiefern können solche Gedankenspiel gesellschaftliche Muster in Bewegung bringen?
Peer: Wenn ich mir so die gesellschaftlichen Diskussionen ansehe, stelle ich fest, es geht sehr wenig um die Zukunft und um sozialen Fortschritt. Es geht viel um rückwärtsgewandtes Denken und Besitzstandswahrung. Darum Grenzen abzustecken, um den Ist-Zustand zu bewahren. Und der technische Fortschritt beschränkt sich darauf wie die nächste App funktioniert. Es fehlt uns etwas und wir haben das Gefühl, das darf nicht so sein, zumal dann viele politische Richtungen die Zukunft übernehmen. Die Gesellschaft verliert den Möglichkeitssinn, weg von den Tatsachen. Kunst kann dem etwas entgegensetzen und kann Denkmuster erweitern und Diskussionen auslösen. Das wird nicht die Welt verändern, aber sonst überlassen wir die Zukunft den destruktiven Kräften.
Eines eurer Stücke spricht über immaterielle Datenclouds als eine Art Überbewusstsein. Kann man die Digitalisierung entschleunigen oder sich dem Prozess entziehen?
Peer: Ich bin nicht so ein Fan vom Aussteigergedanken. Ich finde es wichtig, dass wir diskutieren, was da passiert und wo wir uns hin entwickeln und welche Technologien uns hin zu dieser Entwicklung dienen. Die Besetzung des Kupferbaus finde ich zum Beispiel sehr richtig – sie sagen nicht wir wollen das nicht sondern wir wollen es anders. Die Diskussion wird dann auch die Forschung beeinflussen. In unserem Stück wird Digitalisierung auch nicht verteufelt. Es geht vielmehr darum Digitalisierung auch mal anders zu denken.
Dieter: Als wir unser Stück veröffentlicht haben, ging es in Tübingen erst los, dass das Thema mit dem Cyber Valley so kontrovers wurde. Ich finde die Debatte darüber wichtig, weil gerade viel passiert. Themen, die brennen, ästhetisch nahbar zu machen macht mich glücklich.
Ist man heutzutage faul geworden Trends und Muster zu hinterfragen und gerät die konstruktive Streitkultur dadurch in Gefahr?
Peer: Wenn ich mir anschaue, wie unser Publikum auf unsere Themen reagiert, habe ich eher das Gefühl, dass es viele Diskussionen gibt. Es gibt natürlich auch viele Leute, die nicht nachdenken wollen. Es heißt ja nicht umsonst Denken macht traurig. Ich bin da aber nicht pessimistisch. Ich habe das Gefühl es gibt viele Leute, die wollen diesen Diskurs. Es gibt aber nicht viel Orte, wo das stattfinden kann – das ist das eigentliche Problem. Dort ein Gegengewicht zu schaffen, finde ich total super. Wir merken als Künstler, dass Schranken aufgezogen werden und die Freiräume für Kunst werden kleiner. Alles was neu und irritierend ist, ist erstmal schlecht. Wir müssen zeigen, dass dieser Diskurs stattfindet, wenn man ihm einen Raum gibt.
Wie lassen sich kritisch zynische Themen mit Ästhetik unterhaltsam auf die Bühne bringen?
Peer: Wir konnten unser Team frei zusammensetzen und haben nach Schauspielern gesucht, die genau diese Auseinandersetzung wollen und in diesen neuen Formaten auch Expertise mitbringen. Man ist mit unserem Team sofort im Gespräch und man hat Spaß an der Diskussion. Man muss sie nicht motivieren. Dadurch wird es leicht unterhaltsamere Formen zu schaffen. Bei Uraufführungen, darf dann auch mal etwas schlecht werden. Das wünscht sich kein Künstler, aber dieses Risiko muss es geben.
Dieter: Wenn wir das nicht eingehen haben wir unseren Zweck verspielt. Wenn Theater nicht bereit ist etwas grandioses Neues entstehen zu lassen. Dem künstlerischen Prozess muss man alle Freiheit lassen. Im Idealfall führt es zu einem Triumph oder auch zu etwas das mal scheitert.
Peer: Aber wenn man erstmal diesen Raum im Kopf freimacht, dann hat man einen kreativen Raum geschaffen und es kann etwas passieren. Es gibt auch Stücke, in denen Themen komplex verschachtelt sind. Das ist dann auch eine Form von Unterhaltung und es gehört zur Kunst solche komplexen Themen ästhetisch umzusetzen.
Das heißt Theater sollte Raum zur Interpretation lassen?
Peer: Die Zuschauer haben die Deutungshoheit. Wenn ich etwas sagen will, dann sage ich das. Letztlich sind die, die vor der Bühne sitzen die, die am Ende entscheiden was passiert ist. Theater ist ein Kommunikationsanlass.
Dieter: Man kann mit einer Offenheit ins Theater kommen und sich einfach einlassen als Zuschauer. Die interessante Frage im Theater ist, drinzusitzen, zu beobachten und sich zu fragen, was wurde hier versucht? Nicht was ist die Botschaft. Dann beginnt es spannend zu werden und die eigene Beobachtung ist auch sehr vielschichtig.
Wie fühlt ihr euch in Tübingen als eure neue Heimat und Arbeitsort?
Dieter: Ich fühle mich pudelwohl hier. Ich bin auch Schwabe daher fühle ich mich hier sofort zuhause. Wir haben hier auch einen Freundeskreis. Insofern ist es ein Privileg das hier machen zu können. Ich finde die Stadt gibt einem viel Energie. Wenn du irgendwo hingehst, triffst du sofort inspirierende Leute, aber auch Spinner und Freaks. In einer so jungen Stadt hast du immer frischen Wind. Alle Leute sind an etwas dran und da können wir als Theatermacher super Banden bilden und Leute finden, die Lust haben sich anzuschließen und sich einzusetzen. Ich denke solche Formate sind wie für Tübingen wie gemacht.
Peer: Ich bin so gar nicht Schwabe – ich komme aus Flensburg, fühle mich nichtsdestotrotz sehr wohl. Ich habe in vielen Städten gelebt, zuletzt in Hamburg und Berlin. Es war toll auch Großstadt mitzukriegen. Aber die Größe der Stadt tut mir gerade sehr gut und ich habe das Gefühl ich kann hier ankommen. Es ist hier deutlich leichter als in Berlin Mitte, wenn wir Hand in Hand durch die Innenstadt laufen. Diese Offenheit hat mir sehr gut gefallen und spricht sehr für diese Stadt.
Kupferblau: Vielen Dank für das Gespräch.
Foto: Marko Knab