Seit vergangener Woche brilliert das Zürcher Aktivismus-Kollektiv „Neue Dringlichkeit“ mit ihrem neuen Lehrstück „Der Widerspruch“ im Zimmertheater Tübingen. Wer denkt, Theater sei nur ein passives Sich-Berieseln-Lassen von klassischen Texten, der wird von dem Trio eines Besseren belehrt.
Gesellschaftspolitische Polarsierungen stehen im kritischen Fokus des Abends. Das Lehrstück ist jedoch keineswegs belehrend, denn die Theatermacher sehen ihren eigenen Lernprozess als Denkanstoß für das Publikum, indem die Zuschauer aktiv miteinbezogen werden. Mit viel musikalischem Input, glamourösen Glitzervorhängen und skurrilen Charakteren schafft es das Kollektiv, auf unterhaltsame Weise den Blick auf destruktive Entwicklungen in unserer Welt zu lenken.
Bewusstseinserweiterung gefällig?
Ein Teil der Inszenierung beschäftigt sich mit dem Effekt der zwischenmenschlichen Sprache auf den gesellschaftlichen Diskurs. Dieser Aspekt wird dem Publikum von einer ulkigen Meditationslehrerin nahegebracht, die hierfür auf bewusstseinserweiternde Übungen zurückgreift. Schmerzstillender Aggressionsabbau durch degradierende Sprache ist die ironische Message. Bei Verwendung dieser Sprache gegenüber anderen bestehe jedoch die Gefahr eines physischen Angriffs. Außerdem seien Worte stark mit Emotionen assoziiert und unser Hirn sei formbar. Auf einer weiteren Meditationsreise zeigt uns die immer wiederkehrende Figur, wie manipulative Politiker unser Hirn falsche Wahrheiten glauben lässt, indem es oft genug wiederholt wird.
Im Rausch von Social Media
Instagram, Twitter und Co. sind seit den letzten Jahren auf dem Vormarsch und beeinflussen über ihre immense Reichweite die politische Debatte. Daher wird in dem Stück auf die politische Zweckentfremdung sozialer Netzwerke aufmerksam gemacht und die Assoziation von fremdenfeindlicher Gewalt und entsprechender Posts hinterfragt. Zwingt uns das Brandfeuer in Social Media durch Schüren von Wut und Angst dazu, auf bestimmte Weise zu handeln und zu denken? Die unvermeidbaren Zwänge der Digitalisierung werden durch größenwahnsinnige Utopien parodiert, in der Maschinen eine intergalaktische Zivilisation bilden. Womöglich werde die Technologie zu einer unkontrollierbaren Macht und der Mensch zu dessen abhängigem Handlanger. Der versierte Social Media-Experte auf der Bühne warnt davor, dass durch dieses Lenken politische Clowns gewählt werden, die die Demokratie zerstören.
Ideologien im Imagewechsel
Der antifaschistische Part der Inszenierungen lenkt den Blick auf den derzeit stattfindenden Imagewechsel extremer Radikalisierungen. Altbekannte Vorurteile gegenüber gewaltbereiten und erscheinungstechnisch auffallenden Gruppierungen schwinden laut der linkspopulistischen Frau auf der Bühne. Diese würden durch politisch versierte Akademiker ersetzt, die alte Ideologien neu verkörpern. Inwiefern lassen rhetorische Tricks radikale Positionen als relativ und vernünftig erscheinen? Findet dadurch eine Grenzverschiebung des Verhandelbaren statt?
Ambivalente Auseinandersetzung
Das Lehrstück bedient sich während der Performance verschiedenster Bühnenmittel. Auf amüsante, skurrile Mitmachmomente folgen nachdenklich, kritische Monologe. Die Zuschauer werden dabei immer wieder von Melodien der Backstreet Boys und Coldplay wachgerüttelt und dazu animiert Zeilen über Linkspopulismus und Machtumverteilung mitzusingen. Letztlich findet jedoch stets eine Rückkopplung zwischen den Schauspielern und den Zuschauern statt. Die Charaktere verkörpern realistische Träumer, die auf der Suche nach Antworten sind und zu diesem Zweck im künstlerischen Dialog mit dem Publikum stehen. Es wird auf die Problematik einer konstruktiven Streitkultur hingewiesen, wenn die Gesellschaft politisch gespalten ist. Das Erkennen ausgrenzender Aussagen und sich dagegen zu positionieren, scheint laut des Trios ein guter Richtwert zu sein, um einem Diskussionsgegner zu begegnen.
Das Stück wird nach jeder Vorstellung mit einer offenen Diskussionsrunde abgerundet, in dem das Kollektiv Meinungen und Widersprüche mit dem Publikum austauscht.
Der Widerspruch ist noch an folgenden Terminen im Zimmertheater zu sehen: 24.01., 25.01., 26.01., 31.01., 01.02., 02.02., 07.02., 08.02.
Fotos: Gizem Gueler
Wenn man sonst keine Probleme hätte…