Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der 16. Tübinger Mediendozentur sind am Dienstagabend der Festsaal und das Audimax der Neuen Aula komplett gefüllt. Die Medienwissenschaft und der SWR Tübingen konnten dieses Jahr den Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar als Redner gewinnen, der in seinem Vortrag „Mensch und Maschine – wer programmiert wen?“ über künstliche Intelligenz sprach.
Der Boden, der Fenstersims, die Türschwelle: Alles was geht wird im Audimax noch irgendwie zum Sitz- und Stehplatz gemacht. Hier läuft parallel zum eigentlichen Vortrag im Festsaal der Livestream von Campus TV , den man sich auch zuhause noch anschauen kann. Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft, stellt den Physiker Ranga Yogeshwar als Meister der „komplexitätserhaltenden Komplexitätsreduktion“ vor. Yogeshwar muss in seiner ARD-Sendung „Wissen vor acht“ Themen in knapp zwei Minuten erklären ‒ für das Thema künstliche Intelligenz sind zwei Stunden nötig.
Licht in die „black box“ Künstliche Intelligenz bringen
Maschinen mit KI seien eine „Black Box“, so Prof. Bernhard Pörksen, in die der Mensch bestimmte Inputs hineingebe und bestimmte Outputs herausbekäme. Nur, was darin genau passiere, das verstünden die Menschen immer weniger, obwohl sie KIs immer mehr verwendeten. Licht in diese Black Box zu bringen, das soll Aufgabe von Ranga Yogeshwar sein. Der indischstämmige Luxemburger hat viel Erfahrung damit, komplizierte Dinge einfach zu erklären: Er moderierte unter anderem die Sendungen „Show der Naturwunder“, „Wissen vor acht“ und „W wie Wissen“, außerdem ist er Buchautor und Filmproduzent.
Er erklärt KIs wie eine Funktion: Du gibst verschiedene x-Werte hinein und bekommst als „y“ ein bestimmtes Ergebnis. In einer KI werden menschliche neuronale Netze nachgebildet. Machine learning funktioniert durch eine Vielzahl an Daten-Inputs, mit denen die KI lernt, gleichartige Daten in Kategorien zusammenzufassen. Um die gewünschten Entscheidungskriterien zu vermitteln, müsse der Mensch jedoch „data bias“ vermeiden, wie ein Fettnäpfchen einer Google-Bilderkennung zeigt: Weil die Software in der Lernphase offenbar fast nur Fotos von Weißen analysierte, ordnete sie Bilder mit schwarzen Menschen anschließend der Kategorie „Gorillas“ zu.
Daher fordert der Physiker: „Entscheidungen von Algorithmen müssen nach den richtigen Kriterien erfolgen und erklärbar sein.“ Ein Algorithmus entscheide mittlerweile besser über Kreditvergaben als ein Mensch – aber Maschinenentscheidungen könnten nicht begründet werden. Dies widerspreche dem Gerechtigkeitsempfinden.
Verändertes Menschenbild: „Ich werde gemöchtet“
Wenn wir Entscheidungen nicht mehr erklären könnten, befänden wir uns im Übergang von einem Zeitalter der Kausalität zu einem Zeitalter der Korrelation. Auch unser Wille sei nicht mehr transparent: Möchte ich etwas oder „werde ich gemöchtet“, wie Ranga Yogeshwar es ausdrückt? Als Beispiel führt er Schönheitsideale an: Hier programmiere mittlerweile schon fast die Maschine den Willen des Menschen. Die „Völkerwanderung des Homo sapiens zum digitalen Kontinent“ verändere das Gesellschafts- und Menschenbild. Wie die digitale Evolution weitergehe, bleibe offen: Die biologische Evolution des Menschen habe 4,5 Millionen Jahre Zeit gehabt, sich auszudifferenzieren, die digitale werde es auch tun.
Ist das ein Mensch oder eine Maschine?
Maschinen und Menschen werden sich wechselseitig immer ähnlicher: Der Telefonassistent Google Duplex schaffte es bereits, am Telefon einen Friseurtermin zu vereinbaren und der Friseurin seine Menschlichkeit vorzutäuschen. Diesen sogenannten Turing-Test darf das Publikum in abgewandelter Form selbst durchführen. Normalerweise rät der Mensch beim Turing-Test nach einem Gespräch, ob der Gesprächspartner ein Mensch oder eine Maschine war. Wir raten, ob Klaviermusik von Menschen oder Maschinen gespielt wurde und versagen dabei.
Um das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine positiv zu gestalten, müssten wir uns fragen: Welche Ergebnisse erhoffen wir uns vom Einsatz künstlicher Intelligenz? Und welche Daten wollen wir dafür von uns preisgeben? Eine Chance sei zum Beispiel die Früherkennung von Krankheiten. Hingegen sei es gefährlich für die Solidarität in der Gesellschaft, wenn Krankenversicherungen aufgrund genauer Datenerhebung mit dem Smartphone für Menschen mit schlechten Gesundheitswerten teurer würden. Über jede mögliche Innovation müsse es einen Diskurs geben: „Ist das gut oder schlecht? Ich weiß es nicht. Wir sollten tiefer darüber nachdenken.“
„Demokratie vor Business“
Chancen der Digitalisierung sieht Yogeshwar vor allem im wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt. Problematisch sieht er die Aushöhlung der Wahrhaftigkeit durch Fake News und personalisierte News: Online-Journalismus sei häufig „Erregungsbewirtschaftung“, keine Informationsweitergabe mehr. Aus dem Desinformationspotential und der Marktmacht von Plattformen wie Facebook zieht Ranga Yogeshwar radikale Schlüsse. Bis es klare politische Richtlinien gebe, müssten Netzwerke wie Facebook abgeschaltet werden: „Demokratie vor Business!“ Diese klaren Regeln müssten im gemeinsamen Diskurs entstehen: So habe man die Chance, im digitalen Austausch und im Austausch über das Digitale eine neue „Wir-Gesellschaft“ zu gestalten.
Fotos: Joshua Wiedmann