Im Rahmen des Bücherfests war an diesem Wochenende Meşale Tolu in Tübingen zu Gast. Im Gepäck hatte sie ihr vor Kurzem erschienenes Buch über ihre Zeit als politische Gefangene in der Türkei, aus dem sie dem gebannten Publikum abwechselnd vorlas und erzählte.
„Dieses Buch erzählt meine persönliche Geschichte. Aber diese Geschichte ist nur eine von vielen, die sich in der Türkei entwickelt haben.“ So begann Meşale Tolu ihre Lesung am Samstag im mehr als ausverkauften Weltethos-Institut. Die aus Ulm stammende Journalistin wurde im April 2017 in ihrer Istanbuler Wohnung überfallen und verhaftet. Die Beschreibung jener Nacht steht am Anfang ihres Buches „Mein Sohn bleibt bei mir“ und auch am Anfang der Lesung, „damit Sie sich vorstellen können, was Oppositionelle in der Türkei erleiden müssen.“
Tolu beschreibt, wie mitten in der Nacht eine Truppe der Anti-Terror-Einheit an ihre Tür hämmerte. Als sie die Tür öffnete, stürmten die maskierten Männer die Wohnung, bedrohten sie mit Maschinengewehren und drückten sie mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Tolus Mann, der Journalist Suat Çorlu, war bereits drei Wochen zuvor verhaftet worden; Tolu war mit ihrem 2-Jährigen Sohn Serkan allein in der Wohnung.
In dieser Nacht sah Meşale Tolu weder einen Durchsuchungs- noch einen Haftbefehl. Trotzdem musste sie mit ansehen, wie ihre Wohnung dreieinhalb Stunden lang „durchsucht“ und verwüstet wurde, ohne die Möglichkeit, einen Anwalt oder ihre Familie zu kontaktieren. Und schließlich war sie gezwungen, mit den Männern, die in ihre Wohnung eingedrungen waren, mitzugehen. Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Ihr kleiner Sohn blieb bei einem Nachbarn zurück, wo ihn später sein Großvater abholte.
„Diese sieben Tage waren schlimmer als acht Monate Gefängnis“
Tolu wurde auf die Polizeistation Vatan gebracht. Benannt nach der Straße, an der die Station liegt, bedeutet Vatan „Heimat“. In den 80er und 90er Jahren war diese Polizeistation berüchtigt für Folter. „Und aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass das Thema Folter in der Türkei nicht abgeschlossen ist. Tagtäglich geht es weiter.“ Eine Erfahrung, die übrigens auch Welt-Korrespondent Deniz Yücel gemacht hat.
„Ich blieb sieben Tage in Polizeihaft. Aber diese sieben Tage waren schlimmer als acht Monate Gefängnis.“ Während dieser sieben Tage teilte Meşale Tolu nicht nur die Zelle mit vielen jungen Frauen, von denen vielen Gewalt angetan wurde, sondern musste auch an einem illegalen Verhör teilnehmen. Es waren keine Anwälte anwesend, dafür gab es in dem schallisolierten Raum Kameras. Die Tür wurde doppelt abgeschlossen. Es folgten Erpressungen und Androhungen von Vergewaltigung und Gewalt, auch gegen ihren Sohn. Es zeugt von einer großen inneren Stärke Tolus, dass sie jetzt, kaum zwei Jahre später, auf einer Bühne sitzen und ohne die Fassung zu verlieren, davon erzählen kann.
Am Ende der sieben Tage folgte die Anhörung durch den Staatsanwalt, der sich viele Zeugenaussagen gar nicht anhörte. Tolu wurde gemeinsam mit 17 anderen Frauen zu Untersuchungshaft verurteilt. Bei der Durchsuchung bei ihrer Ankunft im Frauengefängnis Bakırköy weigerte sie sich, sich auszuziehen. Die Wärterinnen wurden daraufhin übergriffig, verhöhnten und bedrohten sie. Dieser Teil der Geschichte sei ihr besonders wichtig, denn „es heißt, es gäbe keine Folter in der Türkei. Aber diese Nacktdurchsuchung war für mich die schlimmste Folter. Ich fühlte mich wie ein Gegenstand ohne Menschenwürde. Das hat tiefe psychische Wunden hinterlassen, die aus mir eine andere Frau gemacht haben. Und diese andere Frau wird nicht so schnell zurückfinden.“
Ein Kind im Gefängnis
Die Erfahrung, ihrer Freiheit und ihrer Würde beraubt und ins Gefängnis gesperrt zu werden, verknüpfte Tolu mit den Erinnerungen an die Gefühle nach dem frühen Tod ihrer Mutter. „Ich hatte das Gefühl, etwas Lebenswichtiges verloren zu haben. Das Gefühl, nicht mehr ganz zu sein.“ Sie machte sich auch große Sorgen, dass ihr Sohn nun die gleichen Gefühle erfahren würde. Eigentlich hatte sie ihm ein Leben innerhalb des Gefängnisses ersparen wollen, als aber ihr eine Anwältin berichtete, dass es Serkan sehr schlecht gehe und er aggressiv und abweisend geworden war, änderte sie ihre Meinung.
Als sich Mutter und Sohn nach 17 Tagen der Trennung endlich wiedersahen, sagte Serkan nur „Mama.“ Und dann: „Mama, bist du sauer auf mich?“
Serkan blieb sechs Monate bei seiner Mutter im Gefängnis, „und in dieser Zeit hatten wir auch viele schöne Tage.“ Tolu teilte die Zelle mit 16, bzw. später bis zu 36 Frauen, die selbst kinderlos waren. Sie alle waren politische Häftlinge, viele von ihnen waren schon seit mehreren Jahren im Gefängnis. Serkan war für sie ein Lichtstrahl, der für alle das Leben erträglicher machte.
Der kleine Junge konnte in dieser Zeit zweimal seinen Vater besuchen. Auf der Fahrt zu dem anderen Gefängnis sah er, dass die Welt draußen viel schöner und bunter war. „Serkan fragte: Mama, wer schließt die Tür ab? Und warum schließen sie die Tür ab? Ich konnte ihm keine Antwort geben. Aber mir wurde in dieser Zeit bewusst, welche Macht die Person hat, die über eine Tür bestimmt. Sie kann entscheiden, welche Funktion diese Tür hat, ob sie sich öffnet, oder schließt.“
Endlich frei – aber der Kampf geht weiter
Bei Meşale Tolus erstem Prozess im Oktober 2017 sei ihr klar gewesen, dass sie nicht freikommen werde, denn die deutsch-türkischen Beziehungen seien damals an ihrem Tiefpunkt gewesen. Aus der Zeitung erfuhr sie, dass für sie eine Haftstrafe von 20 Jahren verlangt wurde. Das habe sie natürlich geschockt, aber „viele Frauen, mit denen ich inhaftiert war, hatten viel schwerere Schicksale. Ich will mich deshalb nicht beschweren.“ Von den anderen Frauen habe sie viel gelernt, vor allem, wie man aus seinen Ängsten Stärken entwickeln kann.
Bei der zweiten Verhandlung im Dezember 2017 kam Meşale Tolu endlich auf freien Fuß. Sie wurde allerdings mit einer Ausreisesperre belegt und durfte die Türkei für weitere acht Monate nicht verlassen. Während dieser Zeit erhielt sie regelmäßig „Besuch“ von der Anti-Terror-Einheit, jener Truppe, die im April in ihre Wohnung eingedrungen waren. Erst im August 2018 konnte sie nach Deutschland ausreisen.
„Ich habe mich von Anfang an entschieden, laut über meine Erfahrungen zu reden, weil ich so viel Unterstützung erfahren habe“, erklärte Tolu zum Abschluss. Allein aus dem Gefängnis habe sie über 1.000 Postkarten mit nach Hause genommen, und dabei sei sie sicher, dass sie nicht alle bekommen habe. Sie sei dankbar für all die Solidarität, die sie erfahren habe, es gäbe aber so viele Menschen, die diese Erfahrung nicht machen dürfen. Und deshalb will sie weitermachen, „für alle, die keine Stimme haben.“ Ihr Buch solle die Menschen ermutigen, stark zu bleiben und weiterzumachen.
Das Publikum im Weltethos-Institut spendete Meşale Tolu nach diesem sehr persönlichen, intensiven Vortrag donnernden Applaus. Im Anschluss gab es einen spontanen Liedervortrag von Henning Zierock von Kultur des Friedens und Ali Güler, dem ersten Kirchenasylanten Tübingens. Gemeinsam spielten und sangen sie ein türkisches Lied über Solidarität, das sie Tolu und ihrer Familie widmeten. Abschließend konnte selbstverständlich Tolus Buch, von der Autorin mit einem Lächeln signiert, erworben werden.
Bilder: Joshua Wiedmann