Vor dem 10. Juli wälze ich die Gedanken immer wieder durch meinen Kopf. Stellen wir uns vor, ich hätte zu Schulzeiten Kopftuch getragen. Wäre eines Tages eine Lehrkraft auf mich zugekommen, um mich anzuweisen, das Kopftuch abzulegen, was wäre geschehen? Hätte ich es heimlich abgelegt, weil meine Eltern es wollten? Hätte ich es weiterhin getragen, weil ich es unbedingt wollte? Wäre ich dann – somit vermutlich keine Studentin mehr – vom Unterricht ausgeschlossen worden? Die Frage, die ich mal mit „Nein“ und dann wieder mit „Ja“ beantwortet hätte: Soll das Kopftuch für Mädchen an Schulen verboten werden?
Der Anlass zur Podiumsdiskussion: „1,5 qm Stoff und Debatten ohne Ende?“ am Mittwochabend des 10. Juli 2019. Der Aufruf der Organisation „Terre des Femmes“ zum Kopftuchverbot an pädagogischen Einrichtungen bleibt nicht die einzige Leitfrage des Abends. Ein klares Für oder Wider in dieser Debatte zu finden, so lernen wir an diesem Abend, ist nicht leicht. Denn die Diskussion setzt noch viel früher an und eröffnet einen Fächer von Vorurteilen, kulturellen Begegnungen und der Frage nach individueller Selbstbestimmung, der die wichtigste Stimme verstummen lässt: die der bedeckten Mädchen und Frauen. Durch den Aufruf von Terre des Femmes reproduziert sich einseitig das stark vertretene Bild von Mädchen als Opfer von Zwangsverhältnissen, ein Verbot würde die pädagogische Begleitung der bedeckten Mädchen oft verunmöglichen. Doch wo liegen die Ressourcen der pädagogischen Arbeit mit Mädchen und Frauen, die Kopftuch tragen?
In der Alten Aula kommen auf dem Podium vier Frauen zusammen, die stellvertretend für genau diese Frauen sprechen und die Herausforderungen für Pädagogen und Pädagoginnen beleuchten. Das „Netzwerk rassismuskritische Migrationspägagogik“ leitet unter der Moderation von Prof. Dr. Barbara Stauber gemeinsam mit dem Institut für Erziehungswissenschaften und adis e.V. durch den Abend.
Meinungen, berufliche Erfahrungen und Handlungsalternativen in der aufgeladenen Debatte äußern Sabrina Fellous von der Herrenberger Bildungsinitiative FödeM, Dr. Jussra Schröer vom Zentrum für islamische Theologie der Universität Tübingen, Aischa Kartal von der Beratungsstelle Yasemin, Evangelische Gesellschaft Stuttgart e.V. und Lena Hezel vom Mädchen*Informations- und Beratungszentrum/Mädchen*treff e.V. Tübingen.
Wenn ein Individuum synonym gesetzt wird für tausend andere
Die Gäste auf dem Podium skizzieren einen pädagogischen Umgang mit der Kopftuch-Debatte, der den bedeckten Mädchen und Frauen mehr Chancen gibt, als ein bloßes Verbot. Vorab klären sie: „Pädagogik hat nicht auf alles eine Antwort, Grenzen bestehen immer.“ Diese Grenzen beginnen bei gesellschaftlichen Zuschreibungsmustern. In „Die Gefahr einer einzigen Geschichte“ äußert die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie präzise und scharf Kritik an den „Single Stories“. Die Gesellschaft, so Adichie, stülpt ein einziges Narrativ über Milliarden Individuen, die alle eigentlich nicht unterschiedlicher sein könnten, und kreiert so den Charakter der „Muslime“, die Figur der „Afroamerikaner“, „typische“ Männer, „typische“ Frauen. Und diese „single story“ reproduziert sich stetig: „show people as one thing over and over again“. Deshalb macht die Anmoderation das Ziel für den Abend deutlich. Es ginge weniger um eine politische Diskussion im engeren Sinn, sondern darum, andere sprechen zu lassen, statt für sie zu sprechen.
Die Antwort der Pädagogik darauf, so sind sich die vier Gäste einig, ist die Ermutigung zur Selbstbestimmung. Anstatt sich auf das Narrativ der jeweiligen Heimat und Kultur zu fokussieren, ist die pädagogische Hauptaufgabe die Orientierung am Subjekt und der Biographie, und diese auch eingebunden in gesellschaftliche Kontexte mit individuellen Wirkungen zu betrachten. Diese Biographien werden in Bildungsinitiativen und Beratungszentren unterstützt. Den Jugendlichen wird ein vertrauensvoller Raum geboten, in welchem sie zum einen ermutigt werden, ihre Identität als Stärke und Ressource zu erkennen und zum anderen lernen können, Strategien für den Umgang mit rassistischen Begegnungen zu entwickeln.
Das Team von Aischa Kartal arbeitet deshalb bewusst multiethnisch, um den Frauen in der Beratung zu zeigen, dass „andere Lebensentwürfe okay sind und jede*r auf einer breiten Identifikationsfläche einen Platz findet“. Entgegen der weitverbreiteten Überzeugung, dass bedeckte Frauen nicht aus freien Stücken ein Kopftuch tragen, ist das Kopftuch nicht einseitig als Zeichen von Rückständigkeit zu lesen: „Ich habe viel von den jungen Damen gelernt. Wenn man die Religion entdeckt, erkennt man, dass manche Frauen das Kopftuch unter anderem als ein Symbol des Protests tragen“, erklärt Kartal.
Alles was anders ist, ist Zwang?
Sabrina Fellous, die selbst seit ihrem 11. Lebensjahr aus eigener Überzeugung bedeckt ist, formuliert ergänzend die Gegenfrage: „Wie kommst d u darauf, dass ich nicht freiwillig muslimisch bin?“. Deshalb will FödeM junge Frauen in ihrer Selbstbestimmung fördern. Und zwar um die Mädchen und Frauen nicht trotz, sondern mit Religion stark zu machen. Die Hürden hierbei liegen vor allem in der starken Polarisierung der Diskussion um Migration, Islam und Stereotypen.
Jussra Schröer vom Zentrum für Islamische Theologie, die auch religiöse Diskriminierungserfahrungen gemeinsam mit den Studierenden thematisiert, macht deutlich: Menschen muslimischen Glaubens sind vielfältig, es ist komplex das „muslimisch sein“ einfach mit einem Wort zu beschreiben, das gleichzeitig alle muslimischen Diversitäten im Alltag zusammenfasst.
Dieser Pauschalisierung zu begegnen bedeutet, das Bild von muslimischen Frauen weniger einseitig zu gestalten. Die negative Darstellung der Kopfbedeckung formt eine Barriere der Chancenungleichheit, die sich messen lässt. Eine Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit aus dem Jahr 2016 zeigt: Bedeckte Frauen müssen vier Mal mehr Bewerbungen verschicken als Bewerberinnen mit identischer Qualifikation, um zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Deshalb steht der Begriff des „antimuslimischen Rassismus“ ausdrücklich nicht für die Projektion des Islam als „Monolith“, sondern weist vielmehr auf die Pauschalisierung im gesellschaftlichen Diskurs hin. Weiter pauschalisiert: Der Zwang zur Bedeckung, Rollenbilder und Lebensentwürfe der bedeckten Frauen, sowie das Kopftuch als scheinbares Zeichen von fehlender Emanzipation. Der Diskurs ist starr, der Dialog nicht immer differenziert. Deshalb ist ein wichtiger Auftrag der Pädagogik, respektvolle Auseinandersetzung anzustoßen und schematisch-einseitige Bilder aufzulösen. Ihren Platz müssen, so Hezel, Bilder der Vielfalt einnehmen.
Die Vertreterin des Mädchen*treff gibt Stimmen der jungen Mädchen im offenen Treff wieder:
„Wir führen normale Leben, unter unseren Kopftüchern haben wir Gehirne. Wir gehen schwimmen und machen Sport, wie alle anderen“.
Kopftuch, Körperbilder und Kategorien
Fellous setzt dem Bild der fehlenden Emanzipation weiter entgegen: „Es ist nicht mein Kopftuch, dass mich einschränkt, sondern die Reaktion und die Behinderung und der Ausschluss durch die Gesellschaft. Schwimmen mit Bedeckung ist möglich, was mich behindert, ist das Burkini-Verbot“. Sie stellt die Frage in den Raum, welche Botschaft jungen Frauen durch ein Verbot des Kopftuchs vermittelt wird. Wird religiöse Identität nicht respektiert? Werden junge Frauen im Umkehrschluss nur respektiert, wenn sie einem expliziten Stereotyp entsprechen? In diesen reihen sich eine Vielzahl von Merkmalen ein, die den Diskurs in die Diskussionen um Körperbilder und um Gender Identity stoßen. Es wird klar, wie weit man sich von der Ursprungsfrage des Abends entfernen kann.
Antworten darauf können nur gefunden werden, wenn die „Diskurse außerhalb der Community angestoßen werden“, so Fellous. Diese Sensibilisierung kann nur stattfinden, wenn die betroffenen Gesellschaften miteinbezogen werden und ihnen Handlungsspielräume eröffnet werden: „Diese Mädchen und Frauen sind Expertinnen ihrer Lebenswelt und wir müssen sie auch so wahrnehmen“, so Hezel. Statt den Stoff des Kopftuchs in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, sollte diese Position den Mädchen und Frauen gewährt sein.
An der Schnittstelle von politischer Bildung, Pädagogik, Wissenschaft und politischer Debatte verfehlt der Aufruf zum Verbot die Komplexität der Lebenswelten und der Religionen. Letztendlich geht es um Menschenfeindlichkeit. Deshalb soll die pädagogische Aufgabe neben den Informations- und Beratungsangeboten in der Ermutigung zum Dialog sein. „Single Stories“ bleiben nämlich dadurch so stark, dass jeder einzelne Antworten liefert. Antworten auf Fragen, die dem Individuum nie gestellt wurden. Das bedeutet nicht nur, dass beispielsweise Frauen mit Kopftuch diesen Narrativen noch stärker und selbstbestimmter begegnen müssen. Auch die pädagogische Fachlichkeit wird gebrochen, wenn Lehrkräfte diese Narrative ins Klassenzimmer tragen.
Zwangsverhältnisse lösen sich nicht mit einem Stück Stoff auf
Eine Dame aus dem Publikum, selber als Lehrerin tätig, teilt ihre Gedanken zu dem aufgerufenen Kopftuchverbot: „Ich hatte zwei bedeckte Schülerinnen in meiner Klasse. Wenn ich mir vorstelle, diesen selbstbewussten Frauen von offizieller Seite die Bedeckung zu untersagen, dann wäre das für mich ein Akt der Gewalt an diesen jungen Frauen“.
Wenn die Bedeckung tatsächlich unter Zwang stattfindet, wie in der Geschichte einer jungen Diskussionsteilnehmerin, die sich erfolgreich vom Kopftuch befreit hat, dann greift pädagogische Unterstützung, wie sie etwa Yasemin durch Beratungsangebote leistet. Es braucht aber auch Vorsicht und Reflexion als Teil der pädagogischen Praxis. Hierzu gehören Workshops an Schulen, wie es der Mädchen*treff anbietet. Mit Jugendlichen zu erarbeiten, was Rassismus und Diskriminierung bedeutet, aber auch die Vielfalt von sexueller Identität und Orientierung zu beleuchten, tragen zu einer antirassistischen Haltung bei.
Denn „die Würde ist unantastbar. Akzeptiert zu werden bedeutet, nicht alleine gelassen zu werden. Dafür braucht es Positionierung und Auseinandersetzung. Wir setzen uns für Elternrechte, aber auch für Kinderrechte ein“. Damit formuliert Aischa Kartal beinahe eine universale Antwort auf das Kopftuchverbot: „Es gibt andere Wege als ein Verbot. Diese brauchen Zeit, Mühe und Aufmerksamkeit. Verbote sind vielleicht schnelle Lösungen, aber bei weitem nicht die wertvollsten.“
Fotos: Daniel Böckle