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Nordkorea: faszinierendes Feindbild

Nicht oft bekommt man die Möglichkeit jemandem zuzuhören, der schon mal in Nordkorea war. Im Rahmen des Studium Generale unter dem diesjährigen Thema ,,Ostasien im Umbruch?“ berichtete Nordkorea-Experte Dr. Werner Kamppeter am Dienstagabend im Kupferbau von seinen Reisen in das Reich der Kim-Dynastie.

Nordkorea ist ein Faszinosum: aus keinem anderen Land der Welt dringen weniger Informationen an die Außenwelt als aus der Ein-Parteien-Diktatur in Südasien. Die öffentliche Wahrnehmung Nordkoreas bei uns konzentriert sich zumeist auf das Atomwaffenprogramm und den scheinbar bis zur Lächerlichkeit Größenwahnsinnigen Alleinherrscher Kim Jong-Un. Was dabei augenscheinlich oft vergessen wird: in Nordkorea leben schätzungsweise 24 Millionen Menschen auf einer Fläche nur etwas kleiner als England. Außerdem ist das kleine Land in ein komplexes geopolitisches Machtgefüge eingebettet, es bedarf also einer differenzierten Betrachtung.

Werner Kamppeter reiste als Direktor des Korea-Kooperationsbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2006 bis 2010 regelmäßig mit Bundestagsabgeordneten, Journalisten und Wissenschaftlern in das verschlossene Land. Er wartet mit vielfältigen persönlichen Eindrücken seiner Reisen nach Nordkorea auf, bemerkt aber zuvor, dass in dem Land ,,Verhältnisse, die man nur punktuell sehen kann“ herrschen und meint: ,,ein Insider bin ich nie gewesen.“

Kamppeter zeigt Bilder nordkoreanischer Landwirtschaft, auch solche von Projekten der deutschen Organisation Welthungerhilfe. Denn: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre brach auch der Außenhandel mit dem osteuropäischen Handelssystem COMECON zusammen. Das Land konnte nun keine Maschinen und Fahrzeuge mehr exportieren und im Gegenzug keine Grundnahrungsmittel und Erdöl mehr importieren. Ohne Erdöl waren nicht nur viele Industriebetriebe, sondern auch die  hochmechanisierte Landwirtschaft am Ende. Nicht nur das: In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre brachen gleich drei Naturkatastrophen über das Land herein. Zwei schwere Taifune zerstörten einen großen Teil der wenigen Reisanbaugebiete im Süden, während kurz darauf extreme Trockenheit auch noch die Produktion von Kartoffeln und Mais buchstäblich verkümmern ließ. Angesichts der herrschenden Not half die internationale Gemeinschaft – allerdings nicht im ausreichenden Maße, weil man laut Kamppeter hoffte, auf diese Weise den Kollaps des letzten verbleibenden „kommunistischen“ Regimes zu beschleunigen. In der Folge starben nach neueren Schätzungen der ONU etwa 370000 Menschen an Unterernährung und deren Folgen.

Perspektivenwechsel: Wer denkt schon an urbane Landwirtschaft, wenn es um Nordkorea geht?

Aus der Not heraus wurden der chemische durch organischen Dünger und die landwirtschaftlichen Maschinen durch Arbeitseinsätze breiter Bevölkerungsschichten ersetzt. Zudem begann man in den Städten öffentliche Parkanlagen und Flachdächer mit Gewächshäusern auszustatten. Daneben half die deutsche Welthungerhilfe beim Bau einer Anlage zur Herstellung von hybridem Maissaatgut. Allein aus den dadurch erzielten zusätzlichen Erträgen ließen sich etwa 5 Prozent der Gesamtnachfrage nach Grundnahrungsmitteln abdecken.  Schon bald stabilisierte sich die Lage, auch weil China noch bestehende Defizite in der Versorgung auszugleichen begann.

Die Armee als wirtschaftliches Schwergewicht

Das Bild von Nordkorea als Staat mit streng planwirtschaftlichem Wirtschaftsmodell relativiert der Gast von der Freien Universität Berlin. So sei die Planwirtschaft seit 2002 kaum noch existent: er berichtet von einem Markt, der ,,schon 2006 ein breites Angebot hatte“, und von urbanen Landwirtschaftsbetrieben, die 70 Prozent ihrer Erträge behalten und verkaufen dürfen. Sie investieren dann das erwirtschaftete Geld in neue und bessere Anlagen und Fahrzeuge. Ein wirtschaftliches Schwergewicht in Nordkorea ist das Militär, da es nur Militärausrüstung aus dem Staatshaushalt bekommt und sich ansonsten selbst versorgen muss. Deshalb agiert die Nordkoreanische Armee wie ein Großunternehmen und trägt mit Tätigkeiten in Bereichen wie dem Obstanbau oder der Straußenzucht stark zur wirtschaftlichen Modernisierung des Landes bei.

Erdbeeren und Hundefleisch: Schon im Jahr 2006 fand der abgebildete lebhafte Markt statt.

Der Nordkorea-Experte erzählt von Kindern, die er auf seinen Nordkoreareisen traf. So spricht er von einem Dorfkindergarten, in dem der Nachwuchs schon von klein auf unter dem Einfluss der Kim-Ideologie erzogen wird. In der Schule stehen die Kinder dann oftmals unter großem Leistungsdruck. Aber: Kinder bleiben trotzdem Kinder, die spielen und herumtollen. So zeigt er zum Beispiel das Bild eines Jungen aus der Hauptstadt Pjöngjang in FC Bayern München-Trikot.

Stadtjunge: Nordkoreas Fußballnachwuchs in Pjöngjang trägt mitunter auch Bayerntrikots.

,,Jedes politische System muss schauen, wie es an Legitimität gewinnt“

Aus wissenschaftlicher Perspektive kommt schließlich der wichtigste Teil des Abends: Kamppeters Analyse des politischen Systems Nordkoreas und dessen geopolitische Situation. ,,Natürlich ist Nordkorea kein Rechtsstaat, kein demokratischer Staat, kein freiheitlicher Staat“ stellt er fest, meint aber: ,,jedes politische System muss darauf achten, wenigstens ein Mindestmaß an Legitimität zu gewinnen.“ In Nordkorea geschieht das 1. durch die Bedrohung durch den äußeren Feind USA, 2. durch steten wirtschaftlichen Fortschritt, 3. durch die Staatsideologie und 4. nicht zuletzt durch die Ausschaltung potentieller Widersacher aus der Elite und durch Repression von potentiellen Widerstandsbewegungen an der Basis, so Kamppeter.

Geopolitisch ist Nordkorea stark in den Hegemonialkonflikt zwischen den USA und China eingebettet. Aus der Sicht Chinas fungiert Nordkorea als eine Art Pufferstaat, während Amerika vom Feindbild Nordkorea zehrt. Es kann durch die Positionierung Nordkoreas als die größte Gefahr für den Frieden in Ostasien seine Truppenpräsenz in Japan, Südkorea, den Philippinen, Guam und anderswo rechtfertigen. ,,Nordkorea ist ein Agent der amerikanischen Militärindustrie“, überspitzt Kamppeter.

Auch wirft er den USA vor, nicht mit Nordkorea verhandeln zu wollen, da die Vereinigten Staaten nicht auf drei Bedingungen des Kim-Regimes eingehen, die seit Anfang der 1980er-Jahre bestehen: einen Friedensvertrag, eine Normalisierung der Beziehungen und eine Aufhebung der Sanktionsregime. Umgekehrt machen Washington und seine Verbündeten die Aufgabe des Nuklearprogramms zur Voraussetzung für Verhandlungen mit Pjöngjang. Dazu sei Nordkorea gerade nicht bereit, weil aus seiner Sicht das Nuklearprogramm die einzige Trumpfkarte ist, über die es verfügt, um die USA an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Zuhörer jeden Alters: Das Publikum ist bunt gemischt.

Die Differenziertheit fehlt etwas

Kamppeters Ausführungen ermöglichen einen komplett neuen und ungewohnten Einblick in das sonst verschlossene Nordkorea. Doch obwohl er das Land vermutlich besser kennt als alle im Vorlesungssaal Anwesenden, verläuft er sich zum Teil in Widersprüchen. So meint er, Nordkorea wolle in Wirklichkeit ,,ein Alliierter der USA werden“, betont aber auch die Wichtigkeit des Feindbildes USA für die innenpolitische Ideologie. Eine kritische Stimme aus dem Publikum bei der anschließenden Fragerunde hat ,,Gutes Verständnis dafür, dass sich die USA nicht an den Verhandlungstisch zwingen lassen“ und wünscht sich eine differenziertere Sicht vonseiten Kamppeters.

Auch bleibt das Gefühl, dass der Gastredner relevante Themen auslässt, wenn es um den geopolitischen Umgang mit Nordkorea geht: ein Beispiel wären die massiven Menschenrechtsverletzungen des Nordkoreanischen Regimes an seiner eigenen Bevölkerung in mehreren Arbeitslagern. Auch wenn Verbrechen seitens Nordkorea meist in einem höheren Ausmaß verurteilt werden als beispielsweise die von China, verliert das Thema dennoch nicht an Wichtigkeit.

Alles in allem zeigt Kamppeters Vortrag Nordkorea von einer Seite, die viele Vorurteile über Nordkorea zurecht infrage stellt und entlässt die Zuhörer mit einem erweiterten Horizont.

Titelbild, Foto 1, 2 und 3: mit freundlicher Genehmigung von Dr. Werner Kamppeter
Foto 4: Leo Schnirring
 

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